Die Entfernung vom Kopf zu den Füßen ist nicht so groß (Heiner Müller)

Mikropolitiken der Nacht, ironischer Apparat für Zitatmontagen, verwegenes Gewölk am strahlenden Blau des Himmels, eine letzte heitere Runde durchs Freudenhaus, all in am Spieltisch von Luxor, unermüdlich im Peneloop – jedoch nicht schlaf- und traumlos – weitergewebt. „I never have a concept, plan, goal, or direct message. Nevertheless, there are some immanent rules: 1. Do not try to solve the enigma of existence, 2. Do not modify it. The enigma is not a secret cipher device but the quintessence of the soul.” Ivan Stanev ist umgezogen. 

Nachruf auf Ivan. In: Theater heute (3/2024)

Epitaphios logos

Heute mussten wir loslassen, was von unserem Freund und Wegbegleiter blieb. Möge sein Andenken ein Segen sein und sprechen weiter zu uns, immerdar …

14. Dezember 2023

Liebe Jeanette! Liebe Tara! Ihr, die ihr klagt und trauert …

Ivan ist umgezogen. Ich möchte deshalb den Anfang eines Gedichts von ihm lesen, das Teil einer bislang unveröffentlichten Sammlung ist, der er den Titel „komoi“ gegeben hätte. Der kómos ist ekstatischer Umzug der frühen Antike, Gesang tonaler und trunkener Begeisterung, der hier seinen Ausdruck im lyrischen Gedicht gewinnt. Älter als die Dionysien sind die komoi, älter als das Drama, als das Theater selbst.

Im Grunde war Ivans Werk immer dies: Umzüge, die in die Aufzüge des Schauspiels einzogen, die die Strophen und Gegenstrophen, ja die Katastrophen der Schrift, durchzogen, auf der Filmleinwand ihre Runden drehten, den Verhängnissen der Masken und Figurationen in Unzeit folgten. Gespannte und zugleich zerbrechliche Verdichtungen, Pfeile aus Blei in die Herzen der Mythen und die Schächte der Geschichte.

Sie haben die Bleibe (sei es das Freudenhaus oder das Gelage, die Erde oder den Himmel) hinter sich gelassen, verzweifeln und verlieren sich im Taumel einer Weglosigkeit; entwegt ziehen sie fort von, entziehen sich, verwegen sogar, unverfroren zuweilen, Grund oder Heimstatt. Stattdessen zeigen und weisen sie – Zug um Zug, Silbe für Silbe – wovon sie ausgegangen waren.

Pegasos, den Bellerophontes zähmte, lebte unter den Musen, nachdem er dem Hals der erschlagenen Gorgo entsprungen war. Bellerophontes, der Exilant, Enkel des Sisyphos, selbst göttlichen Geblüts, ward von ihm abgeworfen (kata-, hinunter, hinein, gegen den Strich des Laufs), auf und in die Ebene Aleion in Kleinasien, wo er später wanderte an den Ufern schwarzer Meeresstrände und in den Zerklüftungen des Gebirgs. 

Von dorther klingt, weithin nach und um und um, anfangslos sein wilder Sang.

Ivan Stanev

Bellerophontes

(komos)

CHORO CHOROS

KATACHTHONIOS

Es lebe der Tod!

REIGE REIGE RE

Sein Perfekt ist auferstanden!

TANZE TANZE TE

Des Todes perfektes Perfekt

auf versteinerter Flucht.

FLÜCHTE FLÜCHTE STE

Wie gewesen wir waren.

WAREN WAHR

Wie der Lindwurm der vergangenen Zeit

SOS GASSOS PEGASOS

Ein Wurm aus künstlichem Leder,

ferngesteuert von untergegangener

göttlicher Hand.

CHANDA CHA

Eine wortkarge Wortbildung,

die unsere Zukunft aufgefressen.

SENE SE

Der Lindwurm, er frißt

seine Kinder.

FRIST GEFRISSTE STE

SCHÖPF ERSCHÖPFISTE

Der Lindwurm,

er frißt wie die Sanduhr

das Sandkorn des Planeten.

Der Lindwurm,

TURMISTE TURM

er frißt den Lindwurm

der Zeit.

ZUR ZUZI ZWAR

WAR ZUZI DAR

Unter himmlischer Haut

HAUTDÜNN HAUTDÜNN

wo die Sonne der Eiterherd

FEUERGRÜN FEUERGRÜN

PHALLOS REX LAVA EJAKULIERT

VAGINA MATER MAGMA MENSTRUIERT

ANUS DEI BIMSSTEIN FÄKALISIERT

BELLEROPHONTES AUF DEM FLÜGELROSS

ROSS PEGASOS

REBELLIERT NOCH VERLIERT

SONNE NE

VERLIERT NOCH REGENERIERT

ERDE DE

Wir waren vergangen,

wir wurden geworden.

Wie gekaut die Zeit

unsere Jahre

JACHRE CHE JA

mit gewesenem, falschem

Gebiß BISI BISS.

Wir wie du BELL BELLE

RO RO PHONTES

Mann mein, Sohn mein,

Eltern der Eltern,

Ahnen der Vorfahren

waren wie Erdsaft

in UNSER UNS,

Pflanzen in Pflanzen

verpflanzt.

Wie ich geküßt

USSTA USST

mit Worten dein junges,

altes Gesicht

mit dem uralten Anteil

an meinem Verlust,

Vater mein, Tochter

wie Mutter, Gelübde.

LÜBDE LÜBDE LE

Du, weiblich, mit

meiner rechten,

männlichen Hälfte

HÄLFTE CHE

ich, männlich, mit

deiner rechten,

weiblichen Hälfte

RECHTE RE

du, die Mutter

im Vater,

senkrecht geteilt

von der Hälfte

der Tochter,

ich, die Gelübde

der Tochter,

ergänzt ab der Achse

vom Körper der Mutter

SAFT IN SAFT

FREUND IN SCHAFT

Ach, wie waren wir

wurden geworden

WORDENDE GEWORD

WÄHRENDE GEMORD

Choro Choros,

Bellerophontele,

Choro Choros,

ROSS PEGASOS,

Choro Choros,

Stheneboia,

und ein Lindwurm

dazwischen ZWISCHT

im Spagat über der

Fuge der Zeit.

CHI CHI CHOROS

WAIRA CHIMAIRA

wie fliegen wir flogen

FLOGIFLOG

GÖLOFOG

und im Fluge SOG,

wie ich küsse geküßt

dich wie du mich

MICHMIDICH

wie SUCHTI sucht

nie gesehene

Sehnsucht,

Verjährung verliebt in

Versöhnung, verlobt mit

Verwesung, WES GE,

und geschah das Geschehen.

Wie im Grab wir

das geronnene Wasser

aus zerbrochenem Glas

sammeln in

Kreislaufschalen

und trinken getrunken

GURLJUGU

GULGULDU

Ich will dich

gesehen wie früher

so schön, meine Liebe,

LIEBER MEIN

daß ich totfiel

voll leidenschaftlichem Absturz

Eine Fledermaus wie du,

schwanger mit mir,

dem fliegenden Maulwurf,

so vorsah das Versehen

und den Lindwurm gebar

der verschollenen Jahre

CHIMAIRA RA

ARCHIWAIRA RA

MENSCH GEBOREN WURDE

IN DEN TOD HINEIN

IN DEN TOD HINEIN

OHNE TOT ZU SEIN

LIEBER MEIN LIEBER MEIN

NICHT GEBOREN

NICHTS VERLOREN

MENSCHLEIN MENSCHELE

MENSCHEL STERBELE

Wie alles wir waren,

wie alles wir wollten,

wollten noch strebten

AN wann wie dann

nicht mehr da waren,

nichts waren noch wollten,

DA DA NA

NA DA NA

Bellerophontele

auf dem Flügelross,

aus Gold sein Rumpf,

jeder Fittich

ein Seidenstrumpf,

sein Kopf aus Elfenbein,

sein Herz aus Edelstein,

sein Huf wie Turm aus Horn,

sein Auge wie Blitz aus Hohn,

AI AI AI

GÖTTERSTÜRMEREI

wie schrecklich schön,

REIGE RAI

wie tödlich frei,

KEIN GOTT MEHR DA

IM HIMMEL NA

CHACHA CHACHA

EIN WURM

WIE DU

IM STURM

ANFLUG AUF DEN

UNTERGANG, Bell Bellerophon,

Sonnenkern aus Ohrenschmalz,

Erdreich Knolle aus Dasein,

Dasein, das gewesen,

Wurzelhaare des Verwesens.

Scheitert jede Laufbahn

HIN DAHIN

am Ziel vor dem Beginn,

Bell Bellerophon,

wo das Ziel

vor dem Beginn?

[…]

Ersatzkaffeesatzlesen

In einer Welt, die reale Vermögens- und Materialwerte in Finanzinstrumente „verpackt“, vermittelt oder jene durch diese strategisch ersetzt, ist es keineswegs so, dass die Vermögen und Stoffe dieselben bleiben, die sie immer schon waren. 

Diaphanes nr. 11 – spring/summer 2023 on Matrices porteuses – Surrogacies out now! Get your copy here: Diaphanes Mag. 11 // Surrogacies

Erlösung durch Architektur // Aus

Aus der Leere tritt der Erlöser wieder ein in die Welt. Die Welt ist das Hinterzimmer einer Bar, in der The Man das Sagen hat. Ein Crumpy White Male, den nur seine besten Freunde Ari Man nennen. Wie ein Gespenst, oder besser wie eine villain in the night, steht Erlöser plötzlich mitten im Raum und entlädt das Magazin einer CZ 75 9mm Luger (also sechzehn Projektile) in den Wanst dieses Früchtens dieser Welt. Ligit! The Man röchelt, hat aber noch die Kraft, sich den kurzen Monolog des Erlösers anzuhören.

(aus: Die alten Filme; KW Berlin. Friendly Fire & Forget)

ERDEN. Naturphilosophische Brocken

Für ERDEN, substantivisch und plural verstanden, gilt es also den imaginativen Raum denkbar weit aufzuspannen, um im besten Falle wahnwitzige Deterritorialisierungen zu provozieren und gleichzeitig dem Terrestrischen verpflichtet zu bleiben. Mit diesem „double-bind“ wollen wir auch der Schreberschen (Zwangs-)Vorstellung „Anbinden an Erden“ Rechnung tragen, die als ursprüngliches Leitmotiv figurierte.

ERDEN enthält Beiträge von Heather Davis, Kai van Eikels, Karin Harrasser, Donna Haraway, Maren Mayer-Schwieger, Johannes Neurath, Hermann Rauchen­schwandtner, Salome Rodeck, Oxana Timofeeva, Elisabeth von Samsonow, Oxana Timofeeva, Thomas Turnbull, Daniel Tyradellis, Maria Zinfert und einer künstlerischen Bildstrecke von Jenny Michel. 

Livestream: https://youtu.be/q5GhBPnsg9I

https://sonderzahl.at/event/erden-naturphilosophische-brocken-im-depot/

Reading in the Rearview Mirror

Es ist ein Kreuz mit den Wortankern. Mit ihren Bestandteilen. Roring, Stock, Schaft, Kreuz, Arme, Flunken … allein beim einfachen Stockanker. Anchors hex. Get your copy here: https://zeitschrift-fuer.de/ oder im ausgewählten Buchhandel.

One more filmy than the rest

Dim vales – and shadowy floods –

And cloudy-looking woods,

Whose forms we can’t discover

For the tears that drip all over

Huge moons there wax and wane –

Again – again – again …

(E. A. Poe)

Film stills by Katharina Copony

New website : http://www.andreashofbauer.eu/de/

… thus snapping the chain –

Die Erschöpfung und das Aufhören, das Enden, verschreibt sich einer Insistenz, die sich weder auf eine Transzendenz stimmt, noch den schmerzhaften Aufbruch verleugnet. Sie geht, zuweilen starr, ohne sich im geringsten zu rühren, weg. Solch aufbrechendes Gehen bricht auch zum verlorengegangenen Kind auf … Merkwürdig mutet so der Brief an, den Herman Melville seiner Tochter Bessie vom Pazifischen Ozean aus am 2. September 1860 zukommen lässt. “Diese Vögel haben kein Zuhause, außer einigen wüsten Felsen mitten im Ozean. Sie sehen niemals einen Obstgarten, und kennen den Geschmack von Äpfeln und Kirschen nicht, wie dein kleiner Freund in Pittsfield, Herr Robin Rotkehlchen … Ich hoffe, dass du gut auf Klein Fanny aufpaßt, und daß du, wenn du den Hügel hinaufgehst, so gehst, [hier folgt eine kleine Zeichnung Melvilles, die einen Baum und etwas Gesträuch zeigt, sowie zwei beinah winzige Gestalten, die sich an der Hand halten]  Leb wohl – Papa.” So, als ob es doch möglich sei, die Faust in die flache Hand zu entfalten, wie Johann Georg Hamann dies gefordert hat, und sich die Hände zu reichen. So, als ob es vielleicht den Aufbruch des Vergessens nach nichts mehr verlangte, als eben nach dieser einfachen, singulären und einfältigen Handreichung, das Wagnis dieser unwahrscheinlichen Berührung, die weder führen noch hüten will.

ALH, “… thus snapping the chain – ” in: Gerburg Treusch-Dieter (Hg.), Schuld, Tübingen 1999

2009, a slyly moment

Überall ziehen die Menschen ihre Uhren auf, um den Schwebezustand hinauszuschieben, der sie einzuholen droht. (Walter Abish, Schaltschemen)

Some sort of Sortes Abishianae. Commemorate lyrics, laugh upon my sleeve. It was the year 2009. In front of a major work of art by Andreas Templin.