hermal (Nullnummer)

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Im beklagenswerten Zustand, in welchem sich Teile der gegenwärtigen Forschungslandschaft heute befinden, liegt es dann auch nahe, dass populärkulturelle Elemente hier einfließen können. In einem erst kürzlich eingereichten Vorschlag für ein Symposium wurde ganz ernstlich nahegelegt, dass zwei Akkordfolgen [Eᵇ F# Eᵇ F# Dᵇm H F# und Am D Am D Cm G], die dem Soundtrack zu einem sechsminütigen Experimentalfilm aus dem Jahr 1949 eines obskuren kalifornischen Filmemachers entstammen, sich als quasi-phytagoräische Tonalsegmente dafür anbieten würden, mathematisch basierte Universalverhältnisse zu prüfen – und all das versehen mit dem Hinweis, dass jene Akkordfolgen der Begleitmusik hurritischer Zeremonialgesänge exakt glichen! Nun lässt sich aber (wie nicht anders zu erwarten) weder der Komponist, ein gewisser Jonathan Halper, dieser Filmmusik nachweisen, noch hat jemals jemand irgendwelche Belege für hurritische Zeremonialgesänge oder deren Begleitung zu Gesicht bekommen. Ausgegebene Kurzlosungen wie „Leben – Tod – Leben“ oder „Leben, zweisilbiger Tod“ die in Form von Sgraffitos auf dünnen Goldplättchen bereits in Tumuli des 12. Jahrhunderts v. u. Z. gefunden wurden, sollen Zusammenhänge zwischen diesen wild imaginierenden Entwürfen und ältester dionysischer Orphik stiften. Der wissenschaftlich sich gebende Anstrich solcher „Denkrichtungen“, mögen sie sich etwa Hermetic Experimental Research oder Lithografischer Realismus nennen, erweist sich als bloßer Schaum und Rauch. Ob es sich hierbei um die bewusste Agitation einzelner oder um den Ausdruck des fahrlässigen Umgangs mit ungesichertem Quellenmaterial handelt, müssen andere Einrichtungen klären. [excerpt]

{ALH for Diaphanes Magazine #0}

Sleep Twitch

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“No. Not like this. – Like this!”

If all the matter down here is made out of the fabric of the dresses, the angels wore, when they were expelled from the highest heavens – then, alas!, the ek-stasis of love and death, their coincidence, should be our new paradise. When our passionate tongues rave and lick alongside the tucks, seams and stitchings, then this will be our desperate but nevertheless idolatrous and haughty attitude. Even when the last piece of fabric is our own skin – or the dust of our bones. Our dreams are boundless, we are “ein Stück in Tüchern” (Rainer Maria Rilke)

Andreas L. Hofbauer on the erotics of touching fabric. A screen shot from the excellent Dellamorte Dellamore by Michele Soavi (1994)

Seide wird zerrissen, um sie besser verstehen zu können

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Ca. 20’ Laufzeit. Loop. 2 Schauspieler. Eine Frau. Ein Mann. Frau: ca. 30 Jahre alt. Trägt ein historisches Kleid. Helle Farbe. Wirkt ein wenig wie ein Kittel (jedoch ohne Anklänge an Upperclass oder Heilanstaltsinsassin). In der Mitte durch Mieder versteift. Mann: ca. 50 Jahre. Neutral gekleidet. Nicht historisch. Möglicherweise gedeckter schwarzer Anzug. Raum: Trägt der Idee “Falte” Rechnung, indem er mit Mollton (weiß) ausgekleidet ist.

Der gesprochene Text bleibt möglichst nah am Original. Interaktion zwischen den beiden Figuren ist zumeist nur gestisch und figuriert sich entlang des Textmaterials. Die Frau spricht zuweilen in der dritten Person über sich, so als ob sie über eine Freundin oder eine ihr bekannte Person spräche. Die Konversation und die Reden bleiben gespenstisch. Vagheit herrscht vor. Keine Kommunikation im eigentlichen Sinne.

[Großaufnahme; Gesicht des Mannes frontal; während er spricht, fährt die Kamera zurück]

Mann:
Ich saß auf dem Stuhl nicht wie gewöhnlich, sondern rittlings, und der Sitz war mit Samt überzogen. Da mir die Empfindungen angenehm waren, habe ich es noch einmal gemacht; aber niemals hatte ich von dergleichen reden hören. Der Gebrauch des Fingers ist erst später gekommen.

[Frau; nun neben dem Mann im Profil]

Ich habe geheiratet, um ein schönes Kleid aus schwarzer Seide zu haben, das aufrecht steht. Nach meiner Heirat zog ich noch Puppen an; das tue ich noch immer gern. Die Seide hat ein Rauschen, ein Zirpen, das mich kommen lässt. Schon das Wort Seide sagen hören, oder sich die Seide im Gedanken vorstellen genügt, um eine Erektion der Sexualorgane hervorzurufen. Der vollständige Orgasmus stellt sich bei der Berührung und vor allem bei der Reibung der Seide an dieser Region ein. Jeden Tag gab ich mich der Masturbation hin. Die normalen sexuellen Beziehungen verschaffen mir keinen Genuss.
In den großen Warenhäusern habe ich oft gestohlen. Mein Strafregister verzeichnet 26 Verurteilungen. Einmal wegen Entwendung eines Seidenkleides, das ich nach dem Diebstahl zusammengerollt und unter dem Rock zwischen meine Schenkel gesteckt habe. Eines Tages trat ich in ein großes Warenhaus ein, getrieben wie von einem Zwang. … In der Seidenabteilung faszinierte mich ein Kleid aus heller blauer Seide, es stand aufrecht. Eine Seide, die nicht steif steht, sagt mir nichts. Darauf war Spitze. Ich habe dieses Kinderkleid genommen, habe es unter meinem Rock verschwinden lassen, in einer großen Tasche mit einem Zipfel habe ich das Kleid genommen und damit masturbiert, mitten im Geschäft, beim Aufzug, dann im Aufzug, wo ich am meisten Genuss hatte. In diesen Momenten schwillt mein Kopf, mein Gesicht wird karmesinrot, die Schläfen schlagen, nur so kann ich genießen. Danach nehme ich den Gegenstand oder lasse ihn. Als man mich überraschte, warf ich ihn weg. Ich habe ihm sogar einen Fußtritt versetzt. Masturbation allein macht mir kein großes Vergnügen, aber ich vervollständige sie, indem ich an das Schillern und das Rauschen der Seide denke. Manchmal, wenn ich mit der Seide masturbiere, habe ich sogar an Männer gedacht. Auch wenn mir der Mann nichts macht.
Ich liebe die Seide, die ganz allein steht.

Excerpt of a screenplay, written together with Theo Ligthart for a Video-Installation (not executed yet) on Gaetan Gatian de Clérambault and the erotics of touching fabrics. We used original lines (translated by Walter Seitter) put on the record by female inmates of the police asylum, in which Clérambault used to work in Paris.

7 – Anmerkungen zur Arbeit eines öffentlichen Träumers

Das Ordnungsprinzip dürfen nicht sieben Kapitel sein, sondern sieben mal sieben, … [d]aß [sic] heißt, ein Kapitel sind sieben Personen, das andere Kapitel sind sieben Handlungsorte des Brunke, das andere sind sieben Orte des Notierens von mir, das nächste sind möglicherweise sieben Formen, dann sind es sieben Türen, dann sind es sieben verschiedene Bilder, die sich die Leute von ihm gemacht haben, in den Akten oder Aussagen oder von den Handlungen.
(Thomas Brasch, [Brunke-Konvolut, S. 401])


Das Ordnungsprinzip dürfen nicht sieben Stichpunkte sein, sondern sieben mal sieben, das heißt, so viele Stichpunkte so viele Masken, das andere sind sieben Handlungsorte der Verzeichnung, das andere sind sieben Orte des Notierens von mir, das nächste sind möglicherweise sieben Maschinen oder Häuser, dann sind es sieben Türen, dann sind es sieben verschiedene Bilder, die sich die Leute von ihren Verlustierungen machen und gemacht haben, in ihren Akten oder beiläufigen Aussagen oder von den daraus resultierenden Handlungen.

(Andreas L. Hofbauer [7. Anmerkung zur Arbeit eines öffentlichen Träumers, also: HIER])

49. Eine Tür, an die Wand gemalt.

48. „Jericho aber war verschlossen und verwahrt vor den Kindern Israel, so daß niemand heraus- oder hineinkommen konnte. Aber der HERR sprach zu Josua: Sieh, ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hand gegeben. Laß alle Kriegsmänner rings um die Stadt herumgehen einmal, und tu so sechs Tage lang. Und laß sieben Priester sieben Posaunen tragen vor der Lade her, und am siebenten Tag zieht siebenmal um die Stadt, und laß die Priester die Posaunen blasen. Und wenn man die Posaune bläst und es lange tönt, so soll das ganze Kriegsvolk ein großes Kriegsgeschrei erheben, wenn ihr den Schall der Posaune hört. Dann wird die Stadtmauer einfallen, und das Kriegsvolk soll hinaufsteigen …“ (Jos. 6; 1-6)

47. Ich

46. Im Schoß des in einem selbst errichteten und später so genannten Erektions- oder Exekutionsstuhl aufgefunden Leichnams des Architekten D. H. aus dem Westteil der Stadt Berlin findet sich ein 2000 Seiten Konvolut, dessen letzte Seite – die von rechts oben nach links unten ausgestrichen ist – die Anweisung gibt, von einem Schriftsteller restauriert zu werden, der eine Pause benötige beim Herstellen künstlicher Charaktere und sich dergestalt einen neuen Beruf zu verschaffen vermöchte, und zwar eben den eines Restaurators. Dieser Schriftsteller kann hernach das so Herausgestellte unter eigenem Namen veröffentlichen, jedoch nicht in das Gefängnis eines Buch-Hauses hinein – und somit in das ebensolche Gefängnis eines notwendig dazu gehörenden Verlags-Hauses – sperren, sondern selbiges nur etwa an Zeitungskiosken oder in Einkaufspassagen zu Entbindung bringen.

45. Künstliche Charaktere, Käufliche Personen; die Liebe und ihr Gegenteil.

44. Du

43. Eine seltsame zölibatäre Maschine, ein bemerkenswerter Beeinflussungsapparat. So ganz ohne Drähte und Knöpfe einer analogen Maschinerie. Gibt es eine Klinik für dieses Symptom?

42. Die Identifikation in der Mechanik der Objektwahl geht der eigentlichen Objektsetzung, also der Objektwahl durch Projektion voraus. „Nicht die Geschichte von Brunke ist die Geschichte, die erzählt werden muß, sondern die Geschichte von einem, der sich in die Bruhnke-[sic]Geschichte verbeißt, weil er etwas anderes verschweigen will“, schreibt Thomas Brasch. Und es stellt sich dabei nicht einmal die Frage: Aber was?

41. Er

40. Thomas Brasch und sein Konvolut über Brunke sind die Restauration des Konvoluts des Architekten D. H. über Brunke, das seinerseits wiederum wohl als die Restauration Brunkes als Konvolut angesehen werden muss. (Denn Karl Brunke verfügt nur über den nie geschriebenen Text mit dem Titel „Die Liebe und ihr Gegenteil“)

39. Eine Drehtür

38. „Und beim siebenten Mal, als die Priester die Posaunen bliesen, sprach Josua zum Volk: Macht ein Kriegsgeschrei! Denn der HERR hat euch die Stadt gegeben. Aber diese Stadt, und alles was darin ist, soll dem Bann des HERRN verfallen sein. Nur die Hure Rahab soll am Leben bleiben und alle, die mit ihr im Hause sind; denn sie hat die Boten verborgen, die wir aussandten. Allein hütet euch vor dem Gebannten und laßt euch nicht gelüsten, etwas von dem Gebannten zu nehmen und das Lager Israels in Bann und Unglück zu bringen. Aber alles Silber und Gold samt dem kupfernen und eisernen Gerät soll dem HERRN geheiligt sein, daß es zum Schatz des HERRN komme.“ (Jos. 6; 16-20)

37. Sie

36. Cotheniusstraße 1

35. Diverse Verbindlichkeiten eines Mannequins

34. Kein Traum rechnet; weder richtig noch falsch. Er fügt nur mitleidlos Zahlen zusammen. Bringt sie in Form nichtkalkulierbarer Notwendigkeit.

33. Abkühlen des Textes auf Protokolltemperatur!

32. Eine der ägyptischen Hieroglyphen der Zahl 7, die vor allem in späterer Zeit häufige Anwendung fand ist, ein nach links gewendeter Kopf, was nicht zuletzt mit der Zahl der Öffnungen in selbigem zusammenhängt.

31. Kopfgeburt

30. Es

29. Schädelnaht

28. Landsberger Allee / Ecke Petersburger Straße

27. Schädelhaus des Kopfes, eingepfercht zwischen Gesicht und Gericht.

26. Alles Blumige muss durch eine Art Analyse ersetzt werden.

25. 25. April 2004, Restaurant Cantamaggio, Berlin-Mitte, abends.

24. Eine Tapetentür

23. Lust + Verlust = Verlustierung

22. Wir

21. „Wenn Liebe Verwahrung heißt, also verwahrt oder bewahrt zu sein, dann müsse das Gegenteil ja Verwahrlosung sein.“ (Thomas Brasch)

20. Wie sollte denn ein Staat an einer „Liebesmaschine interessiert sein, die wie Einsteins Relativitätstheorie Zeit und Raum vom Kopf auf die Füße stellt und wie Freuds Entdeckung von Traum und Trieb das Leben im Bett vom Bauch auf den Rücken dreht und beide Glücksfälle zusammenführt, die den Menschen das Vorhandensein eines anderen Menschen und alle damit verbundenen Tode überflüssig macht, die sprechen und singen und umarmen und streicheln und verzeihen und küssen kann und ihren Besitzer erniedrigen und von ihm erniedrigt werden will, die an seine oder ihre Freunde ausgeliehen und dabei beobachtet werden darf, die in eine Haut gekleidet ist wie jene Haut, die du in meinem Kopf in dein Kistchen verwahrt hast …“?

19. Spielmannstraße 1

18. „Am 17. Oktober kaufen wir den Revolver.“

17. Eine Maschine, wie jene, die das Fräulein Natalija A., 31 Jahre, ehemals Studentin der Philosophie, nun stocktaub und sich ausschließlich schriftlich verständigend, entdeckte. Irgendwann um 1919 und dem Dr. Tausk vielleicht in Wien davon erzählte. Seit sechs Jahren steht sie unter dem Einfluss dieser Maschine, die verbotener Weise in Berlin erzeugt wurde und betrieben wird. Ein kopfloser Rumpf in der Form eines Sargdeckels, mit allen Gliedmaßen, nur nicht mit den so genannten Geschlechtsorganen – diese seien entfernt worden. Jede Manipulation an der Maschine ist eine Manipulation an ihrem Körper. Jeder Schmerz der Maschine ist der ihre. Wie das Gefühl des Geschlechts fehlt, fehlt auch der Kopf, oder ist wenigst für sie nicht sichtbar.

16. Ein Fragezeichen, wie es in der spanischen Sprache üblich ist.

15. Unbedingte Beziehungen sind nicht möglich!

14. Der Architekt D. H. entschloss sich, nachdem er herausfand, dass die Sieben die magische Zahl Brunkes sei, unter vollständigem Verzicht auf Nahrung und Schlaf in sieben Tagen die sieben Lebenskapitel des Brunke zu Papier zu bringen und dergestalt sich so vollständig auszudenken, auf dass Platz für Brunke in seinem Schädelhaus entstehe. Sollte dies nicht gelingen, bemesse er sich derart wenig Gewicht bei, dass ein Bindfaden auszureichen hat, um aus dem Ausrufezeichen das Brunke war ein Fragezeichen, das er in diesem Falle für immer bleiben müsste, zu machen, das sich in den Tod krümme.

13. „Rahab aber, die Hure, samt dem Hause ihres Vaters und alles was sie hatte, ließ Josua leben, weil sie die Boten verborgen hatte, die Josua gesandt hatte, um Jericho auszukundschaften. Zu dieser Zeit ließ Josua schwören: Verflucht vor dem HERRN sei der Mann, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wieder aufbaut! Wenn er ihren Grund legt, das koste ihn seinen erstgeborenen Sohn, und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn seinen jüngsten Sohn!“ (Jos.; 25f.)

12. „[S]o erscheint die Himmelswölbung mir beinahe als das Inn’re eines ungeheuren Schädels und wir als seine Grillen! – Ich bin eine, die er, wie sehr ich auch mich sträube, im Begriff ist zu vergessen!“ sagt der Marius bei Grabbe.

11. Ihr

10. Monumentenstraße 1

9. Die Ägypter unterteilten die Elle in 7 Handbreit um zur königlichen Elle zu gelangen. Dies führte zu einer subtilen Verbindung zum Gott der Schreiber, Thot, dessen schriftliche Fixierung für die ewige Gültigkeit von Ereignissen bürgt. (Gleich der Anwendung der königlichen Elle in der Architektur). Um seine protokollierenden Handlugen magisch zu fixieren, besteht sein Schreibutensil aus den sieben Binsen. Die Idealzahl der Schreibutensilien einer Palette ist folglich ebenso die sieben; – Thot, der im Jenseitsgericht protokolliert, dort, wo die Verstorbenen wieder belebt werden.

8. Die Heilige Familie unter ein Dach zu bringen war Karl Brunkes anfänglicher Plan. Oder etwa doch der seiner Mutter, aus deren Fuge er kroch? Architekt D. H. in Berlin hat diesen Plan aufgegeben, da er ein anderes Geheimnis hinter dem Tun Brunkes entdeckt zu haben glaubte. Der Verweis auf diese seltsame und doch so brauchbare Öffnung im Schädel – „jene sich kurze Zeit nicht schließende Fuge im Kopf des Säuglings (von der Natur klug eingerichtet, um die Fuge der Mutter nicht zu verletzen, den Kopf also verschiebbar zu machen, auf daß er nicht in Mitleidenschaft gezogen wird durch den engen Geburtskanal, durch den er zurück will ein Leben lang)“ – alles nur eine raffinierte Idee Brunkes eine achte Öffnung einzumahnen, die ihm einerseits zur Stelle eines nützlichen Arbeitsplatzes verhilft, ihm aber zum anderen später bei Gericht zum Nachteil oder Einwand gereichen wird.

7. Doch kaum Platz genommen auf dem Stuhl der zölibatären Maschine nimmt der Abgang vom Uterus terrae matris seinen Lauf.

6. Jedem Auftritt ist der uranfängliche Abtritt beigegeben.

5. Das Glück eines dritten Geschlechts, das sich ausbildet hinter den Fraternisierungen von Bank und Bordell.

4. Sie

3. Der Poet als Architekt, der Architekt als Maschinist, die Klammer des Maschinischen, die alle Häuser und Köpfe heimsucht.

2. Die Städte Kanaans waren bloß kleine Verwaltungszentren Ägyptens, in denen lächerlich machtlose Fürsten mit ihren kleinen Stäben lebten. Jericho verfügte über keinerlei Befestigungsanlagen. Es ist sogar möglich, dass die Israeliten unter dem historischen König Josiah bloß Ruinen zwischen verstreuten Hirtensiedlungen vorfanden. Darüber, wie es den Huren oder käuflichen Personen im Allgemeinen oder Speziellen dort erging, ist so gut wie nichts bekannt.

1. Das Haus für Brunke wird nicht fertig.

0. Eine Tür, in einer Mauer, die es nie gab. – Und an dieser Schwelle vor einer neuen ungeahnten Tür und einem neuen ungeahnten Grund vielleicht, wandelt sich die Wand zum Gewand, schält sich der TraumBrunke („Das Blanke Wesen“) mit einer verrosteten Nagelschere die Haut vom Leibe und legt sie erstmals nicht mehr fein säuberlich zusammengefaltet in ein Kistchen oder in sonstige Lade, sondern wirft sich das Kleid über die Schulter und … läuft … los …

Andreas L. Hofbauer for Juliettes Literatursalon and the Jewish Museum of Berlin. This text was red / dreamt by the author himself for the first time in public on April 25, 2004, at Cantamaggio (Berlin). It refers to Thomas Brasch small book “Mädchenmörder Brunke” and the several thousand pages of the so called “Brunke-Konvolut/Die Liebe und ihr Gegenteil” by the same author. Brasch, Brunke, east, west, Jewish, German, murderer, bank teller, piano teacher, Kabbala, bachelor-machine – a wondrous textlandscape.

Ensembles und Module

Ekstasen kann man am besten mit einem Ensemble begreifbar machen. Denken Sie zum Beispiel an Phantasien. Niemals kann eine Beschreibung allein ersetzen, was ein Ensemble entstehen lässt und zugleich dem Untergang preisgibt: Übersicht, Details und Proportionen in bloß einem Akt.

So dienen Ensembles nicht allein der Veranschaulichung, sondern vielmehr der Analyse, dem Verfall und dem Genuss. Varianten erstellen, vergleichen und genießen; Ursache und Wirkung zelebrieren – Prinzipien, an denen die Ekstasen weiterentwickelt werden, reifen und wieder verloren gehen.

Die Ekstase sexueller Ensembles. Mit ihnen werden Strategien und Konzpte anschaulich und überzeugend umgesetzt: Spielwiesen für außermoralische Hedonisten; nichts für offiziöse Kulturpolitik und Integrationspropaganda samt deren Aufsichtsgremien.

Unsere Ensemblemodelle sind Instrumente. Nutzt sie!

In Form lustvoller Dienstleistung übernehmen wir Aufbau und Einsatz von Ensemblemodellen, unterstützen die Zusammenstellung der Informationen und Prämissen und tragen zur Planung, Bewertung und den damit verbundenen Diversifikationen bei.

Juliettes ist eine von uns erstellte Software mit der Ensemble-Modelle für unterschiedliche Projekte selbst entwickelt und eingesetzt werden können. Wir impfen die Hardware mit einer umfangreichen Download-Bibliothek. Wir verabreichen euch die Medizin, schenken euch die Module, die ihr selbst einsetzen und weiterentwickeln könnt.

Nicht versäumen: Pandrogyn!

Wie wohl wäre mir, könnte ich etwas
sein, das weder Frau noch Mann wäre. Gäbe es das,
würde ich sogleich darin wohnen möchten.
(Unica Zürn)

Füttert man die Internetsuchmaschine Google mit dem Wort pandrogyn, so taucht sofort die Frage „Meinten Sie: androgyn?“ auf. Nun – nein, meinten wir nicht!

Die (englische) Wortschöpfung pandrogyne geht auf die Avantgarde- und Underground-Ikone, der Erfinder des Industrial, Musiker (Throbbing Gristle, Psychic TV), Performer und Autor Genesis P-Orridge und seine Lebensgefährtin Lady Jaye (die sich als eine Art Personalunion verstehen und unter ihrem gemeinsamen Namen Breyer P-Orridge leben und arbeiten) zurück. Ein solches pandrogyn ergänzt nicht allein eine Zweigeschlechtlichkeit und Zweideutigkeit (ausgehend von den beiden Stammsilben andr-/gyn-) um einen Buchstaben, sondern erweitert diese in Richtung eines All-Zusammenhangs, der sich von seiner binären Ausgangsidee verabschiedet. Dies wird allerdings nur durch eine altbekannte Fehlableitung möglich. Schon der antike Stoizismus hatte das griechische to pan als das All übersetzt und im logos pan menyon das alles Anzeigende ausgemacht. Dürfte die etymologisch korrekte Herleitung zwar vom mykenischen aiki-pata (Hirt/weiden) herrühren, so wollen wir uns dennoch getrost von einem creative misreading leiten lassen. Darüber hinaus handelt es sich bei pandrogyn und Stoff/Textil – von Letzterem werden wir gleich sehen, dass es die entscheidende Aufzeichnungsfläche unserer Unternehmung ist – ohnehin nicht um Begriffe. Doch spielt hier das Fehlen von Begriffsdefinitionen keinerlei Rolle, gilt doch ganz allgemein: „Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche ,Definition‘ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre wie die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen.“ (Ludwig Wittgenstein)

Jenseits der mittlerweile gut eingespielten, etablierten und mit zahlreichen Meriten versehenen Gender Studies, den Verhandlungen der Geschlechterdifferenz und einem zu Weilen fröhlichen gender blending liegt, sozusagen als unbestellte und verwilderte Zone im sorgfältig kartierten Feld des Sexuellen, die Region erogener Körper. Sie sind nicht auf die Umrisse der Anatomie reduzierbar, auf die Fassungen der Biologie beschränkt oder kulturell durchgeformt. Vielmehr wird von ihnen her das ganze bislang vertraute Schema, was ein Körper sei, worin sein Erotismus bestünde und was er zu schaffen vermöchte ungewiss. Erst eine – durch eine lange Kette (etwa von Spinoza über Freud bis hin zu Butler oder Preciado) von Untersuchungen nachgewiesene – Besetzung und Produktion von Zonen körperlicher Erogenität ist dafür verantwortlich, dass und wie sich sexuelle Körper überhaupt aus- und umformen. Ihr Geschlecht ist vorerst demnach weder eins noch zwei. Sexuelle Körper werden erst über ein komplexes Signifizierungsgeflecht von Narzissmus, Alterität und passionierter Inanspruchnahme hervorgebracht. In diesem Zusammenhang also bezieht sich pandrogyn weniger auf das sexuelle oder kulturelle Geschlecht und seine Konstruktion und Repräsentation, Differenz oder Austauschbarkeit, sondern auf die Stofflichkeit erogener Formationen. Da Lust nicht vorrangig über die Funktionen des Geschlechtsapparats gesucht und gefunden wird, operiert sie vielgestaltig und merkwürdig in und an Körpern, die „Ensembles erogener Zonen“ (Serge Leclaire) sind; spiegelt sich in deren Oberflächen, durchlöchert sie, dringt in sie ein, wird von ihnen ausgestülpt, verbindet sich mit Auslagerungen anderer Körper usw. Pandrogyne Körper verstehen wir demnach als produktive Vernähungen und Verstrickungen von Phantasmen, Schnitten, Sprechakten, Gelenken, dem Denken, obsessiven Besetzungen etc., die den Ausbildungen von Körperbildern und Identifizierungen vorausgehen. Sie sind chiasmatisch (χ) und ausgefranst. Unregelmäßige Umschläge von CHI und ICH.

Pandrogyne Körper beschränken sich keineswegs auf menschliche Körper. Sie entstehen auch aus verschiedenartigen Mischverhältnissen mit nicht-menschlichen und so genannten unbelebten Gegenständen und sind folglich Kompositkörper. Weichen sie auch weitgehend den Rastrierungen von gender und sex aus oder erweitern diese erheblich, so bedeutet das freilich nicht, dass diese Dimensionen nichts mit ihnen zu tun haben. In erster Linie aber sind pandrogyne Körper psychoplastische! Pandrogyn bringt folglich den Aspekt der Plastizität ins Spiel, anstatt, wie gesagt, weiter den Ordnungen von Repräsentation, Mimesis und Rollenperformanz zu gehorchen, die unter der Herrschaft einer ideologisch erpressten Flexibilität stehen. Auch hinsichtlich des Aspekts einer gegenkulturellen Taktik sollte dabei nicht übersehen werden, dass eine solche Plastizität so manche Formen schafft und generiert, andere zugleich aber auch sprengt.

Ich bin der Stoff, der mich umhüllt. Dies ist auch ein Kurzschluss von Auto- und Panerotik. In der Wirklichkeit dieser Annahme ist das Pandrogyne mit dem Textilen verflickt. Man braucht daher gar nicht auf die esoterische Idee zurückgreifen, dass alle Materie Stoff des ehemaligen Kleides der aus dem höchsten Himmel gestoßenen Engel sei und die dem Menschen von Gott zugewiesene Arbeit darin bestünde, dieses Kleid wieder zu retten (Alchymie). Man erkennt auch ohne diese Erzählung leicht, dass die Leidenschaft am Stoff zwischen etwas Engelhaftem und dem Obszönen changiert. Die Einfalt des nackten Körpers und des reinen Geistes (die es recht eigentlich gar nicht geben kann) wird mit einer Vielzahl von verführerischen Implikationen geimpft, die von der Drapierung zur Hosennaht, von der Wand zum Gewand reichen. Und im Zuge dessen werden einige beliebte Fragen überflüssig, andere gewinnen an Kontur: Gibt es einen weiblichen Fetischismus? Warum nicht! Kann man ohne phantasmatische Stütze wahrnehmen? Natürlich nicht! …

Eine Politik der Geister und eine Politik der Körper sind bloß zwei Seiten derselben Münze. Die entscheidende Erweiterung liegt in den leidenschaftlichen (und zu Weilen obsessiven) Besetzungen von Fleisch – Textilie – Stoff (Schnitt – Naht – Oberfläche). Diese Verhältnisse kann man nicht auf die Schnelle einsacken, bei einer Semiotik der Mode innehalten oder begeistert im Funduskämmerchen der Kostümkunde stöbern. Vielmehr tastet man sich mehr oder weniger behutsam entlang von Säumen, Falten, Schlitzen vor. Keine Auseinandersetzung pandrogyner Körper kann solitär bleiben; sie ist immer eine Auseinandersetzung mit dem Anderen und anderen. Pandrogyn und Stoff sind Objekt und Subjekt ihres Genießens. Alles andere wäre ohnehin untragbar – oder unerträglich. Nicht von ungefähr gibt es bei den Weberinnen der Navahos den Brauch, keine Textilie gänzlich fertig zu weben oder mit einem umfassenden Saum zu versehen, sondern irgendwo im Gewebe eine Lücke offen zu halten.

Bei all dem hebt natürlich auch der Gott Pan – zum Abschluss soll dies noch einmal deutlich betont werden – sein Haupt. Der große Gott der Felder und Weiden, der vielleicht gar nicht so tot ist, wie es der Mythos beklagt. Auch seine Erscheinung ist eine pandrogyne und gekennzeichnet von einer faunischen Sinnlichkeit, die sich aber auch mit einer tiefen Fremdheit und Kälte gegen über allem, was ihn umgibt, paart. Sein Wesen ist durchaus auch eines des Sich-nicht-Verbindens. Seine Ek-stase ein Abgang von der Idolatrie des Menschengeschlechts. Damit beweist sich aber wiederum nur aufs Neue, dass das Gewirk von Schuss und Kette eine ebenso gegenstrebige Fügung ist, wie das Spiel von Bogen und Leier.

Ob die überschwängliche Begrüßung des Pandrogynen als „open source myth of creation“ (Breyer P-Orridge) gerechtfertigt ist, bleibt abzuwarten. Das Signum des pandrogynen Mythos wird jedoch gewiss S/He is Her/E lauten.

Andreas L. Hofbauer for Mein heimliches Auge XXII (2007/2008) Konkursbuch Verlag Tübingen

auge

William Seabrook

William SeabrookWilliam Seabrook – Dark and tantalized genius. A magical island in his own right.

Nach der Rückkehr von ihrer gemeinsamen Reise aus Timbuktu, die auch offiziell vom Musée Ethnographie du Trocadéro (dem heutigen Muséum National d’Histoire Naturelle / Musèe de l’Homme) unterstützt worden war, beschließt William Seabrook die Mitglieder desselben über seine Forschungsergebnisse zu unterrichten. Zu diesem Zweck lädt er mit Hilfe von Michel Leiris eine Gruppe von seriösen Wissenschaftlern dieser Institution, die er selbst als „ausgestopfte Hemden“ zu bezeichnen pflegt, zu einem Essen ins Restaurant Foyot. Vorher gibt es im Studio Seabrooks einen kleinen Umtrunk. In einer Ecke, abseits der bereitgestellten Cocktailgläser, dem Eiswürfelbehälter und dem Sodasyphon, unweit des Balkons, hängt an diesem Abend eine fast nackte Frau. Marjorie Worthington, später die zweite Frau Seabrooks und langjährige Weggefährtin, nennt sie Mimi, eine Prostituierte von Montparnass. Sie trägt nichts als einen Lederrock, den Seabrook aus Afrika mitgebracht hat. Ihre Handgelenke sind an eine Kette gefesselt, die von der Decke hängt. Ihre Zehen berühren kaum den Boden. (Also eine Art des Derwisch-Danglings.) All das wird nach kurzem Erstaunen zur Kenntnis genommen und der gepflegte Smalltalk geht weiter. Auch Michel Leiris, der sich etwas verspätet, ist wenig überrascht. Nach den Getränken begibt man sich zum Essen. Marjorie gibt Mimi einen stiff drink, räumt die Gläser ab und folgt nach. Es ist durchaus möglich, dass auch Man Ray an diesem Abend anwesend war. Er wird später einige Fotografien für Seabrook anfertigen. Und es ist durchaus möglich, dass Mimi niemand anderes war als seine spätere Geliebte Kiki de Montparnasse.

„Ein jedes Ding hat zwei Griffe; einen, mit dem man es trägt und einen, mit dem es nicht getragen werden kann.“ (Willliam Seabrook)

We are not here to entertain! (Gendertronics)

Saraswathi1

Das Brechen mit dem sogenannten Konsens der Wirklichkeit. Mit dem Müll des Imaginären, das immer auf’s Neue eine Realität herstellt, deren Solidität und Solidarität den Kitt gesellschaftlicher Gefüge repräsentiert. Die Dignität einer Armut, die sich von diesem Kitt nährt, ohne ihn zu verdauen oder zu rezyklieren. Kunst als artifizielles Exkrement, manifest und immanent in allen Körperflüssigkeiten, manifest und immanent in allen Wort- und Tonergüssen.

Der sexuellen Intoxitation ist der Vorzug vor der biochemischen zu geben.

Andreas L. Hofbauer on Genesis P-Orridge and Gendertronics

Villa dei Misteri

Untitled 7

An irgendeinem Ende des vermeintlichen Rundgangs angekommen, schließt keine schüchterne junge Dame im Faltenrock verschwiegen und verschwörerisch das Gabinetto degli oggetti osceni auf – wie dies auch heute noch im Archäologischen Museum in Neapel geschieht –, sondern den Besucher (i. e.: uns) erwartet Miss Muerte(1), ein doppelgeschlechtlicher Engel der Geschichte eigener Façon. Nicht eröffnen sich dem Betrachter nun die Schatzkämmerlein luxuriöser Häuser (venerea) der Vergangenheit, die ihm noch einmal die In-Szene-Setzungen des Repertoires luxuriöser Ausschweifung vor Augen führen und nochmals die anregenden Stellungen des Liebesakts (figurae Veneris) kaleidoskopisch vorbeiziehen lassen. Miss Muerte ist weder Artefakt noch Mechanismus der Zukunft, sondern Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte, die aufgehört hat, in den Kategorien von Historizität oder Zyklus (Vergehen und Werden) vermessen zu werden. Ihr Kameraauge weist sie als erste untote Erscheinung aus; als Schreib- und Leseapparatur, die unverzüglich die von ihr produzierten Bilder wieder in die Welt der Schatten übergehen lässt. Die Personage, die sich um ihr Auge herum versammelt, inmitten der obszönen Kulisse eines träumenden Gottes, ist illuster. Friedrich Nietzsche und Sarah Bernhardt, Isadora Duncan und Alexander Moissi, Marinetti und Oemichen, die Duse und Dionysos … sie zelebrieren ihr eigenes Über-Leben während einer letzten, großen und wahrhaften Orgie, die, wie alle Orgien, ihre scheppernde Nackt- und Bloßheit nicht verbirgt. Ihr Reigen ist kein bunter, sondern ein Requiem auf jede Beruhigung durch derlei Idee. Dort wo jeder stolz als sein eigener Unternehmer geendet hat, wurde auch jeder sein eigener Hampelmann. Die sogenannten Größen der Geschichte nicht ausgenommen. Die Phrasen und zitatorischen Querverweise auf ihre eigene Vergangenheit in ihrer wechselseitigen Anrede verweigern sich jeder Mit-Rede. Dadurch enttäuscht sich geglückt die Illusion einer friedfertig ausgehandelten Kommunikation, dort wo diese immer schon eine disziplinatorisch verordnete war. Und durchaus stolz stellt sich ein solches Zittern morscher Knochen (jener erhabenen und materiellen Reste, die, gleich den Schatten, Gäste sind die bleiben) gegen plumpe Expression vorgegaukelter Individualität und Entbundenheit, ohne aber aufzuhören, Freiheit einzumonieren. Nicht länger befriedigt jeder die Lust am anderen, sondern das Symptom des Anderen entlarvt sich als das, was es ist: gar nichts mit ihm zu schaffen zu haben.
Das Theater derart postdramatisch verwandelnd, die ganze Maschinerie des Theaterapparats erneut in Anschlag bringend, wird die Institution durch Prostitution ersetzt, ohne dieser zu gestatten, sich selbst wieder zu institutionalisieren. Ivan Stanev stellt in seiner Villa dei Misteri konsequent abzüglich in Rechnung, dass nicht allein Menschen Kartenhäuser bauen (und in ihnen leben), sondern dass sie selbst solche sind. Die fragile Konstruktion einer Bühnenarchitektur, die ihre eigene beständige Erosion nicht verschleiert, sondern exponiert. Ihr er- oder geträumter Einsturz ist einregistriert in eine Maschinerie, die ihr eigenes Zittern immer wieder zur Schau stellt, einen Spielraum preisgibt, der gegen die Eventualitäten des Zusammenbruchs nicht versichert, sondern ihn als ihr Fundament ausweist. Hier haben die Schatten Hunger, und die Gebeine keimen. Wo derart eine Aura verfliegt, stellt sich schnell heraus wie schwer es im Grunde zu begreifen fällt, dass es doch ein Alltägliches und Profanes gibt, das sich von der erlogenen Seinstotalität verabschiedet und ein neues Leben zu leben begonnen hat. Ihm gibt Stanev die Würde seiner Leichtigkeit und Stumpfheit, seiner Gebrechlichkeit und Schmerzlichkeit, seines Verlorengehens zurück. Und er tut dies, indem er seine Zuseher wie auch seine Figuren der Heimsuchung eines nicht enden wollenden Erwachens aus einem Traum aussetzt, um den wir alle nur zu gut wissen, wenig aber davon ahnen. Auch die pornai und Größen der Geschichte sind noch nicht erlöst aus ihrem Gefängnis des Kontext, doch dieses Mysterienspiel der Zeit vor der Phototapete der Fresken aus der Villa dei misteri heischt gar nicht nach Erlösung. Jenes Über-Leben ist nicht Schritt hinaus (weder Austritt ins Paradies noch Abtritt in die Auslöschung), sondern es erweist seine eigene Perspektive des Glücks.

Das Geraune einer Vielzahl, das sich nicht zu einer Stimme sammelt; das Geraune, das uns Schaudern macht, weil es zuweilen monoton oder schrill ist, wie die hängen gebliebene Nadel auf einer alten Schallplatte oder eine Polizeisirene in der Nacht. Ein Geraune aber auch, aus dem wir manchmal die vertrauten Akzente derer zu vernehmen glauben, die wir unsere „many thousand departed friends” (Edgar A. Poe, Shadow) heißen dürfen: Wie schwierig aber aufhören zu müssen den Nächsten zu lieben, damit man Freundschaft mit dem Fernsten schließen darf. Um Miß Muerte drehen sich die Schatten, die uns tonlos zuzurufen scheinen: „Bemerken Sie auch, daß ich kein Mitleid mit Ihnen habe, um sie zu rufen; und sie nicht schätze, um Sie zu erwarten … Indessen rufe ich Sie und erwarte Sie —” (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente). Ivan Stanevs Villa dei Misteri ist keine Beschwörung, sondern Ausdruck dessen, was nicht mehr oder weniger einfordert als: Sesam öffne sich, ich will hinaus. Ungewiss bleibt, ob er dies schon getan hat.

(1) So lautet auch der gleichnamige Titel eines Films des Sex-Thriller-Trash-Regisseurs Jess Franco (eigentlich: Jesus Franco), dessen eigener Name wiederum auf merkwürdige Weise den doppelt apokalyptischen (im Sinne einer Enthüllung der Wahrheit) Charakter von Ivan Stanevs Villa dei Misteri widerspiegelt.

Andreas L. Hofbauer (2002) for Ivan Stanevs Villa dei Misterii (Sophiensaele/Berlin). Costume design and pic by Heidi Müller.