An irgendeinem Ende des vermeintlichen Rundgangs angekommen, schließt keine schüchterne junge Dame im Faltenrock verschwiegen und verschwörerisch das Gabinetto degli oggetti osceni auf – wie dies auch heute noch im Archäologischen Museum in Neapel geschieht –, sondern den Besucher (i. e.: uns) erwartet Miss Muerte(1), ein doppelgeschlechtlicher Engel der Geschichte eigener Façon. Nicht eröffnen sich dem Betrachter nun die Schatzkämmerlein luxuriöser Häuser (venerea) der Vergangenheit, die ihm noch einmal die In-Szene-Setzungen des Repertoires luxuriöser Ausschweifung vor Augen führen und nochmals die anregenden Stellungen des Liebesakts (figurae Veneris) kaleidoskopisch vorbeiziehen lassen. Miss Muerte ist weder Artefakt noch Mechanismus der Zukunft, sondern Dreh- und Angelpunkt einer Geschichte, die aufgehört hat, in den Kategorien von Historizität oder Zyklus (Vergehen und Werden) vermessen zu werden. Ihr Kameraauge weist sie als erste untote Erscheinung aus; als Schreib- und Leseapparatur, die unverzüglich die von ihr produzierten Bilder wieder in die Welt der Schatten übergehen lässt. Die Personage, die sich um ihr Auge herum versammelt, inmitten der obszönen Kulisse eines träumenden Gottes, ist illuster. Friedrich Nietzsche und Sarah Bernhardt, Isadora Duncan und Alexander Moissi, Marinetti und Oemichen, die Duse und Dionysos … sie zelebrieren ihr eigenes Über-Leben während einer letzten, großen und wahrhaften Orgie, die, wie alle Orgien, ihre scheppernde Nackt- und Bloßheit nicht verbirgt. Ihr Reigen ist kein bunter, sondern ein Requiem auf jede Beruhigung durch derlei Idee. Dort wo jeder stolz als sein eigener Unternehmer geendet hat, wurde auch jeder sein eigener Hampelmann. Die sogenannten Größen der Geschichte nicht ausgenommen. Die Phrasen und zitatorischen Querverweise auf ihre eigene Vergangenheit in ihrer wechselseitigen Anrede verweigern sich jeder Mit-Rede. Dadurch enttäuscht sich geglückt die Illusion einer friedfertig ausgehandelten Kommunikation, dort wo diese immer schon eine disziplinatorisch verordnete war. Und durchaus stolz stellt sich ein solches Zittern morscher Knochen (jener erhabenen und materiellen Reste, die, gleich den Schatten, Gäste sind die bleiben) gegen plumpe Expression vorgegaukelter Individualität und Entbundenheit, ohne aber aufzuhören, Freiheit einzumonieren. Nicht länger befriedigt jeder die Lust am anderen, sondern das Symptom des Anderen entlarvt sich als das, was es ist: gar nichts mit ihm zu schaffen zu haben.
Das Theater derart postdramatisch verwandelnd, die ganze Maschinerie des Theaterapparats erneut in Anschlag bringend, wird die Institution durch Prostitution ersetzt, ohne dieser zu gestatten, sich selbst wieder zu institutionalisieren. Ivan Stanev stellt in seiner Villa dei Misteri konsequent abzüglich in Rechnung, dass nicht allein Menschen Kartenhäuser bauen (und in ihnen leben), sondern dass sie selbst solche sind. Die fragile Konstruktion einer Bühnenarchitektur, die ihre eigene beständige Erosion nicht verschleiert, sondern exponiert. Ihr er- oder geträumter Einsturz ist einregistriert in eine Maschinerie, die ihr eigenes Zittern immer wieder zur Schau stellt, einen Spielraum preisgibt, der gegen die Eventualitäten des Zusammenbruchs nicht versichert, sondern ihn als ihr Fundament ausweist. Hier haben die Schatten Hunger, und die Gebeine keimen. Wo derart eine Aura verfliegt, stellt sich schnell heraus wie schwer es im Grunde zu begreifen fällt, dass es doch ein Alltägliches und Profanes gibt, das sich von der erlogenen Seinstotalität verabschiedet und ein neues Leben zu leben begonnen hat. Ihm gibt Stanev die Würde seiner Leichtigkeit und Stumpfheit, seiner Gebrechlichkeit und Schmerzlichkeit, seines Verlorengehens zurück. Und er tut dies, indem er seine Zuseher wie auch seine Figuren der Heimsuchung eines nicht enden wollenden Erwachens aus einem Traum aussetzt, um den wir alle nur zu gut wissen, wenig aber davon ahnen. Auch die pornai und Größen der Geschichte sind noch nicht erlöst aus ihrem Gefängnis des Kontext, doch dieses Mysterienspiel der Zeit vor der Phototapete der Fresken aus der Villa dei misteri heischt gar nicht nach Erlösung. Jenes Über-Leben ist nicht Schritt hinaus (weder Austritt ins Paradies noch Abtritt in die Auslöschung), sondern es erweist seine eigene Perspektive des Glücks.
Das Geraune einer Vielzahl, das sich nicht zu einer Stimme sammelt; das Geraune, das uns Schaudern macht, weil es zuweilen monoton oder schrill ist, wie die hängen gebliebene Nadel auf einer alten Schallplatte oder eine Polizeisirene in der Nacht. Ein Geraune aber auch, aus dem wir manchmal die vertrauten Akzente derer zu vernehmen glauben, die wir unsere „many thousand departed friends” (Edgar A. Poe, Shadow) heißen dürfen: Wie schwierig aber aufhören zu müssen den Nächsten zu lieben, damit man Freundschaft mit dem Fernsten schließen darf. Um Miß Muerte drehen sich die Schatten, die uns tonlos zuzurufen scheinen: „Bemerken Sie auch, daß ich kein Mitleid mit Ihnen habe, um sie zu rufen; und sie nicht schätze, um Sie zu erwarten … Indessen rufe ich Sie und erwarte Sie —” (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente). Ivan Stanevs Villa dei Misteri ist keine Beschwörung, sondern Ausdruck dessen, was nicht mehr oder weniger einfordert als: Sesam öffne sich, ich will hinaus. Ungewiss bleibt, ob er dies schon getan hat.
(1) So lautet auch der gleichnamige Titel eines Films des Sex-Thriller-Trash-Regisseurs Jess Franco (eigentlich: Jesus Franco), dessen eigener Name wiederum auf merkwürdige Weise den doppelt apokalyptischen (im Sinne einer Enthüllung der Wahrheit) Charakter von Ivan Stanevs Villa dei Misteri widerspiegelt.