Dis-Continuity and Presence of Mind

Yezidi

Miau!

Marlene Dietrich
Spion X 27, Komponistin und Kryptographin,
in Josef von Sternbergs Dishonored

Mach’ es so, dass man es ganz einfach verstehen kann

… die Fragestellungen irgendwie zusammenfassen und den Lesern dabei Raum zum Denken lassen. Lageanalyse. Überblick schaffen. Wie ist das mit der Zeit? Bruch und Kontinuum. Gedächtnis und Vergessen. DIY-Geschichte und digital tools. Ist das hier Ausweitung des Belagerungszustands oder Verlängerung eines New Golden Age ins Unendliche? Ist überhaupt noch etwas da oder kann gar nichts mehr verschwinden? Du hast 15.000 Zeichen. Vier Seiten Magazinformat eben, extended.

Nun ja – ich mag meine Herausgeber. Ich mag auch die antiken Sophisten. Immer schon. Vor allem Gorgias. Deshalb konnte die Antwort doch wohl nur lauten: Ein Kinderspiel (paígnion)!

Auf den Vorlass ist Verlass

Unternimmt man den Versuch zu begreifen, was heute geschieht, hat man das gestern und morgen offenbar schon geschluckt. Ob man will oder nicht. Diplomatisch (also doppelgesichtig) vermittelt sich hier das aus der geschichtlichen Erfahrung Gewonnene und entwirft sich (eine) Zukunft, die man dann in Angriff nimmt. Hat nun zweifellos das Umsichgreifen digitaler Medien ein ungeahntes Überhandnehmen des außenproduzierenden Gedächtnisses und seiner Speicher einerseits befördert, so gilt andererseits weiterhin: Keine Revolution ohne Gedächtnis. Dort, wo andere gescheitert sind, unbemerkt für ihre Zeit geblieben oder man versucht hat, sie in die Vergessenheit abzudrängen, sollte neu angeknüpft werden. Die Enkel fechtens besser aus … hieß die Losung der Hoffnung seit den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts. Was im Augenblick aussichtslos oder als Niederlage erscheint, mag irgendwann Brückenkopf für den Aufbruch zu neuen Ufern werden. Doch heute? Unter den Prämissen eines globalen Kapitalismus und in der digital vernetzten Sphäre macht sich mancherorts eine gewisse Resignation des Nichts geht mehr und Nichts wird mehr gehen breit. Retromania, rasender Stillstand, eintöniges Immer-weiter. Just das Weitermachen, die Kontinuität, schafft die Zerstörung, meinte schon Brecht. (1) Die Keller können gar nicht so schnell ausgeräumt sein, wie die Anthologien sich schon gleich Wolkenkratzern auftürmen. An den Wolken wird dabei gar nicht mehr gekratzt, sondern diese selbst werden vollgeramscht. Das Blau des Himmels – gnadenlos verstellt. Permanentes refreshing und updating bereitet scheinbar jeden Status und jedes verzeichnete Datum instantan auf. Eine gedächtnisschwangere Gegenwart greift ebenso in die Vergangenheit ein, wie in die Zukunft aus. Zwar erzeugen sich endlos evolutionäre Varianten, die Revolution bleibt aber aus, der Umschlag kommt nicht. Selbst der Spielraum derjenigen, die die Geste des to come des Zeitlichen jedweder diesseitiger Ankunftshoffnung entgegenhielten und als entscheidenden Modus des Offenhaltens begriffen, wird immer enger.
Die Ernüchterung resultiert dabei nicht zuletzt daraus, dass die noch vor ein paar Jahrzehnten gefeierte Vorstellung von Immanenz, Kontingenz, Arbitrarität und Verweisstruktur, endloser Verkettung usw. dermaßen überdeutlich geworden und uns auf den Leib gerückt ist, dass sie in Angst umschlägt. Assoziationswahn führt zur tödlichen Isolation. Konsensrealität hat Frühvergreisung zur Folge.

Verlässlich arbeitet jeder an seinem Vorlass, schreibt sich zwischen Konsumverhalten, Blog, soundcloud- und youtube-Beitrag und politischer Kurznachricht in die Geschäftsbücher, Folianten und Anwesenheitslisten unserer Jetzt-Zeit ein. Nachlass zu Lebzeiten hieß das bei Robert Musil. Jeder Autor, alle aktiv, jeder basisdemokratisch, jeder dabei. Selbst die ganz reell ausgetragenen gewalttätigen Kämpfe um Anerkennung oder Regimewechsel, auch Bürgerkriege und Kriege gegen den Terror, dokumentieren sich selbst auf unzähligen Kanälen. Präsidenten geben ihre Anweisungen per SMS, beobachten in Echtzeit, wie sie scheinbar Geschichte schreiben und geben ihre Meinung dazu auf den üblichen Kanälen kund. Dass es dabei auch zu doppelter Buchführung kommt, ist diskrete Aufgabe der Nachrichtendienste.

Bedürfnis

Und was soll uns ein solcher Umschlag und seine Revolution angehen, mein Bester? Wen sollte kümmern, ob es sich ereignet, im Kommen bleibt oder ohnehin nie möglich oder wirksam war? Und überhaupt … was für ein Pool gerade für die Kreativ-Klasse und die Künstler, die ohnehin seit aller Ewigkeit zitieren und kopieren und dabei tunlichst darauf achten, ihre Spuren zu verwischen. Beckmessereien, weiter nichts. Und dann auch noch die Zeit! Der Psychoanalytiker wird Ihnen etwas von logischer Zeit erzählen, Religionswissenschaftler die Frist beschwören, Quantenphysiker bemerkenswerte Experimente vorstellig machen und die ermüdeten Philosophiehistoriker auf Augustinus verweisen, seit dessen Zeiten und Fragestellung sich eben nicht viel geändert hätte.

Mögen Wissenschaftler und Techniker, die verwöhnten Müßiggänger im Garten des Wissens, die Politberater und Netzeuphoriker und die gelassenen Archivare auch auf unsere derben und anmutslosen Bedürfnisse herabblicken, wie schon Nietzsche sagt – was soll’s!? War schon das Gewicht der Historie etwas, das nur die Starken ertragen konnten, so verlangt das vermeintlich immaterielle permanente Jetzt einer Posthistoire ganz besondere Gewichtheber.

Mehr oder weniger fröhliche Möglichkeiten, der Misere zu entgehen

Man wird wie Saulus vom Blitz getroffen, wird ein ganz anderer und ändert sein Leben (ohne allerdings dabei neue Formen des Änderns selbst einzuführen). Man kann dann zum Beispiel orthodoxer Kommunist werden und eiserne Härte und eifernde Erwartung zu Schau stellen. Nennen wir es den Badiou-Ausweg.

Man wird von einem obskuren Gegenstand, der vom Himmel fällt, auf den Kopf getroffen und versucht dann durch endlose re-enactments das Authentische wiederzufinden. (2) Solche Vorhaben lassen sich sogar gewerbsmäßig und professionell coachen, allerdings sollte man dann darauf achten, sich nicht all zu sehr mit seinem Auftraggeber zu identifizieren. Nennen wir die Sache daher den Nazrul-Ram-Vyas-Ausweg.

Man wird das Opfer von Alzheimer oder einer gewaltigen Kopfverletzung oder zimmert sich aus derlei Fallstudien eine psychologische Ontologie des zerebralen Unbewussten. Der Malabou-Ausweg.

Man wird Juniorprofessor für Archivwissenschaften im Exzellenzcluster. Ein akademischer Ausweg.

Man trifft durch die Vermittlung obskurer Geo- und Geheimwissenschaftler Cthulhu und Pazuzu (resp. ihre Schatten oder Leichen) in den Ruinen einer syrischen Stadt, imaginiert – selbstverständlich ohne jedes erotisches Engagement – unheilige Geschlechtshandlungen mit ihnen und gebiert sich anschließend als Spekulativer Realist selbst. Auch das neuerdings zunehmend ein akademischer Ausweg. Vielleicht sogar ein theologischer.

Objekte und a little bit of history repeatin’ (or maybe not)

Das Neue scheint demnach immer nach einem Bruch anzuheben (mindestens seitdem Gott selbst auf dem Berg Sinai ’anochi sprach), verwandelt sich in ein Kontinuum und wird dann durch den nächsten Bruch durch ein nächstes Neues abgelöst. Zuweilen werden hernach auch Bruchvorläufer ausgemacht und konstatiert, dass Brüche sich eben wiederholen können. Sie sind nicht dieselben geblieben, aber sie kehren wieder. Aber in jedem Fall scheint das Neue nicht ganz so neu, wie es vielleicht selbst gerne erschiene.

Schaut man sich um, sieht man sich mit einer seltsamen Illusion konfrontiert. Die Geschichtsschreiber versuchten das historische Ereignis darzustellen, wie es eigentlich gewesen ist (Ranke). Doch dass nichts eigentlich gewesen ist, war bloß offensichtlicher Einwand und Korrektur. Viel entscheidender hingegen ist, dass Objekt und Artefakt, sozusagen das Belegmaterial der Geschichtsforschung, ins Hintertreffen gerieten. Beziehungszusammenhänge, Korrelationsnetzwerke, politische und ökonomische Feldbestimmungen, strukturale Verweissysteme ersetzten zunehmend jede eigentliche Bedeutung des Objekts. Krypten und Mumien, Fetischobjekte und Kleinode wurden nicht erst in Hergés Comicalben als Träger von Botschaften dechiffriert und daher schlussendlich materiell überflüssig. Schmutzige Götter enden in den Vitrinen der Museen, wo man sie umkreisend anstarren kann, oder am Fließband ihrer massenhaften Vervielfältigung und Verteilung.
Doch ist dem so? Bleibt es nicht doch beim Objekt, das mich fesselt und nicht loslässt? Ist es nicht doch das Objekt, das sich mir stetig entzieht? In den Objekten (zu denen man – wie gleich ersichtlich werden sollte – auch Subjekte zählen darf), aber auch in den Korrelationen und Verweisspuren, insistiert etwas, das über eine zweiseitig gedachte Möglichkeit und Wirklichkeit hinausgeht. Da ist nicht nur ein Artefakt, der sich auf der einen Seite aufdrängt oder isoliert wird und die Verformung oder Informierung dieses Artefakts durch unsere gesellschaftliche Verfasstheit oder Diskursformation auf der anderen. Objekte bleiben durch ihre Insistenz als psychische Objekte (tönend im weitesten Sinne) auch immer Sender von Botschaften. Dabei wissen aber sowohl die Sender dieser Botschaften zum Großteil nicht was sie senden (und das heißt auch keineswegs, dass mit einem solchen Sender nur ein menschliches Bewusstsein gemeint sein kann), sondern auch die Empfänger verfügen nicht über die Mittel zur Beantwortung der Frage, was diese Sender von ihnen wollen, was sie ihnen zu sagen haben. Geschieht es? und Was will (es) von mir? sind folglich keine Fragen, die man beantworten kann, sondern man verantwortet sie. Hier geht es nicht darum, den Abstand von Ereignis und Erlebnis zu überbrücken, sondern es gilt, seine Spannung offen- und auszuhalten.

Wird vorgegeben, dass Botschaft und Objekt für die Geschichte überflüssig werden, da sie nichts weiter als Funktionsagenten seien, stoßen wir auf einen versteckten Idealismus, der durchaus auch ein deutscher ist. „Charakteristisch für den deutschen Idealismus, sowohl in seiner Theologie als auch in seiner Erkenntnistheorie, ist die Apotheose der Bewegung über die Realität, der Funktion über die Substanz, der Energie über die Materie. […] Wandel und Geschichte werden zu Grundattributen des göttlichen, und das göttliche Leben ist der allgemeinen moira der Zeit unterworfen. Zwar haben sowohl Fichte als auch Hegel darauf hingewiesen, daß die Bewegung der Gottheit, die sie beschreiben, nicht eine Bewegung in der Zeit ist, sondern ,logischen Charakter‘ hat, aber dennoch bleibt unübersehbar, daß die Bewegung anders als in der Zeit nicht manifest werden kann …“ (3) Doch dort, wo jedwede Substanz in eine Funktion umgewandelt werden kann, begrüßen die einen begeistert die größte Errungenschaft, wir hingegen sehen darin eine Krise, die mitnichten bloß eine des Menschen ist.

Fine slices, microphones and garments

Das Verhältnis von Bruch und Zeit, Bruch und Dauer, Dis-Kontinuität und Kontinuität sollen daher anders gedacht werden. Wir behaupten also, dass durch die Besinnung auf Materialität und Affektivität des psychischen Objekts die zeitliche stasis (und stasis bedeutet zugleich „Stillstand“ wie auch „Aufruhr und Bürgerkrieg“!) ihren hohen Anspruch einbüßt. Gerade im Zusammenspiel von Bild und Ton kann sehr gut gezeigt werden, dass sich in der Diskontinuität keineswegs Bruch (Da) und Dauer (Fort) ablösen, sondern verlötet sind. Michel Chion spricht rücksichtlich des Tonfilms von Indiskontinuität. Ein Neologismus der doppelten Verneinung welcher besagen will, dass hier Kontinuität gerade durch ihre Unterbrechung oder Wechselhaftigkeit – besonders was die vektorisierende Tonspur angeht – repräsentiert wird. (4) Bill Viola behauptet darüber hinausgehend bezüglich des Videobildes im Allgemeinen: „Technologically, video has evolved out of sound (the electromagnetic) and its close association with cinema is misleading since film and its grandparent the photographic process are members of a completely different branch of the genealogical tree (the mechanical/chemical). The video camera, being an electronic transducer of physical energy into electrical impulses, bears a closer original relation to the microphone than it does to the film camera.“ Aus diesem Grunde wird das strömende Gewebe des Tonalen durch zeitliche Schnitte zu einem kairotisch (5) rhythmisierten Bild-Kleid. „The fabric of all video images, moving or still, is the activated constantly sweeping electron beam – the steady stream of electrical impulses coming from the camera or video recorder driving it. The divisions into lines and frames are solely divisions in time, the opening and closing of temporal windows that demarcate periods of activity within the flowing stream of electrons. Thus, the video image is a living dynamic energy field, a vibration appearing solid only because it exceeds our ability to discern such fine slices of time.“ (6)

Doch was ist mit „exceeds our ability“ gemeint? Liegt hier nicht vielmehr eine Ähnlichkeit vor? Schließlich ist zwar auch kein Subjekt jemals im Jetzt, denn die Zeit des Ego ist diachronisch, doch seine Rede wird durch ein sich Öffnen und Schließen des Unbewussten unterbrochen. Die Zeit zu Begreifen bildet eine Schlaufe, die erst nachträglich wirksam und immer wieder gebrochen und gekreuzt wird. Die Einbildungskraft ist hier gebrochener Rahmen, ein geteilter Einbildungsrahmen, doch auch ein Schirm der Fantasie. Die Einbildungskraft vermittelt nicht das Fremdsein in der Welt, sondern setzt es in die Objekte ein und geht dann damit und mit ihnen um. Ein Fremdsein, das mit den anderen geteilt wird, eine Vergegenwärtigung, eine Gegenwart, die je immer schon geteilte Gegenwart ist. Vor dieser Folie gewinnt der Begriff Geistesgegenwart eine völlig neue Bedeutung. Denn diese ist niemals nackt oder neu, niemals bloß Gespenst oder revenant, Variante (von etwas) oder Apokalypse oder Advent.

Pioniere

Geistesgegenwart ist Verantwortung eines Körperwissens. „Der Weg in das Körperwissen, in die Weisheit der Erde ist ein geheimer Gang. Er verläuft unterirdisch. Man kann ihn nur von Stufe zu Stufe begehen, und nur nach Prämissen, die erst die jeweiligen Stufen bereitstellen. Keine Chance für Überflieger.“ (7) Dem Verwerfen des achtsam-forschenden Ganges zugunsten einer noch erhöhten Beschleunigung – full speed ahead – in die Katastrophe hinein ist deshalb in höchstem Maße zu misstrauen. Ob theoretische Bruchpiloten oder Kamikazeflieger, der neuerdings erhobene apokalyptische Ton in der Philosophie bringt nur … Wüsten. Im Übrigen ist die Geste einer solchen nihilistischen Beschleunigung, die sich gegen das Versagen des bürgerlichen Liberalismus und des Marxismus vor den Problemen des 21. Jahrhunderts wendet, Neuauflage und Wiederkehr dessen, was Armin Mohler bereits 1950 als den Grundzug der „Konservativen Revolution“ ab 1918 beschrieben hat. Das entbehrt in vielerlei Hinsicht nicht einer gewissen Ironie. (8)
Den medial Euphorisierten vergeht der ungebremste Spaß dieweil von selbst und wenn nicht, dann sollte man ihnen trotzdem aufmunternd auf die Schulter klopfen.
Der Pionier schließlich verlässt sich auf seine Schanzarbeiten. Er gräbt, bleibt der Erde treu, weil er auf seine Schritte, seine Füße und den Gang vertraut. Er hat das Gehen, auch das Weggehen, und den Umgang (9) nicht verlernt, errichtet keine Wände, sondern näht seine Gewänder. Deshalb muss er auch nicht immerzu alles aufzeichnen, zur Schau stellen und dokumentieren.
Es sei an dieser Stelle ergänzend festgehalten, dass ohne Zweifel auch Bill Drummond ein Pionier ist, The17 eine Pionierleistung.

A colossal New England landscape painting destroyed by flashlight

In einem Dramolett oder Kürzeststück – übrigens einem, das nie zur Aufführung gebracht wurde, sich auf keinem Tonträger findet und niemals als Hörspiel gesendet wurde, gedruckt jedoch glücklicherweise lesbar bleibt – trifft H. P. Lovecraft, Esq. auf den Kunstmaler Pickman, der gerade eines seiner riesigen Gemälde aus dem Federal Art Club, aus dem man ihn gerade geworfen hat, nach Hause trägt. Noch ehe der neugierige Lovecraft das Bild im Schein einer Stabtaschenlampe näher betrachten kann, beginnt sich dieses unter Schmatzlauten aufzulösen und zu schmelzen. Unter dem Licht der Lampe, wird es schließlich rasch immer kleiner und kleiner und verschwindet dann.

pickman : schaudernd
: es hat seinen bruder geholt, lovecraft ..
lovecraft : und ohne diese gute taschenlampe hätte es auch uns und die ganze menschliche rasse geholt ..
kutlyoo : von ganz ferne, fast schon aus einer anderen welt
urghll urghll rhyll niarhchll edison edison onkhtphot onkthtphot! (10)

Ganz im Gegensatz zum ironischen Titel, wo es heißt, Lovecraft hätte die Welt gerettet, und zur Ansicht der beiden mehr oder minder verschreckten Herrn ziehen wir den ebenso ironischen Schluss, dass zu viel tragbare Elektrifizierung untragbar wird. Cthulhu und andere alles verschlingende Kräfte an die Wand malen hingegen ist auch kein Ausweg (schon gar nicht für Cthulhu). Daher: Es nicht perfekt machen, schon gar nicht so, dass es der Akademie gefallen könnte, Kontakt zum Fernsten halten, angreifbar und seinen Idiosynkrasien treu bleiben, weitergraben, außereuropäische Fremdsprachen lernen.

Das führt uns weniger zu einem Schluss, als zum Anfang. Gibt es also ein geglücktes – und vergessen wir nicht, dass das Wort Glück sich etymologisch auf die Lücke rückführen lässt – Aufgehen in der Gegenwart, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrigbleibt? (11) Und wie, wenn es gar kein Tier wäre, das so lebte, sondern … ? Welche Geistesgegenwart wäre für ein solches Leben von Nöten? Und welche, einem solchen auszuweichen?

Daraus folgt auch: Fröhlichere Möglichkeiten angesichts der Lage

Einen Geschmack an Zeichen (Johann Georg Hamann) braucht es. Hermetische Maler des Kolossalen und Tonsetzer von Synkopen. Poetinnen und Kryptographinnen. Kinderspielplätze. Eine recessionale Priesterschaft der Atropos. (12) Hersteller raffinierter Tabakwaren und gute Schneider. Unzeitgemäße Zeitgenossenschaften und fröhliche Tropen.

Ganz einfach.

(1) Vgl. Heiner Müller, Fatzer ± Keuner, in: Heiner Müller Material, Leipzig 1989, S. 32.
(2) Man vgl. in diesem Zusammenhang den außergewöhnlichen und brillanten Roman Remainder (Richmond/Surrey 2006) von Tom McCarthy.
(3) Jacob Taubes, Dialektik und Analogie, in: Ders., Vom Kult zur Kultur, München 1996, S. 207 f.
(4) Vgl. Michel Chion, Audio-Vision, Berlin 2012, S. 176-179.
(5) Dass der kairos als „glücklicher Augenblick“ gedacht werden kann hat seine Ursache darin, dass er das Adverb harmoi („zur angemessenen Zeit“) weitgehend ersetzt. Dieses leitet sich von harmos her – Fuge, Ritze, Gelenk. Der kairos selbst wurde zum gebräuchlichen Wort, weil er praktisch und bildlich vorstellt, wie man diese Lücke nützen kann. Beim Weben von Schuss- und Kettfaden, beim Töten durch den Speer, den man in die Lücke der Rüstung des Gegners stößt (meistens an den Gelenkstellen). Zum Verhältnis des Tonalen zum Kairotischen und zur weiteren Etymologie vgl. Andreas Leopold Hofbauer, Diverse Verbindlichkeiten, Wien 1998, S. 211-260; zur kairotic instantisation den Beitrag von Wolfgang Ernst in diesem Band.
(6) See Bill Viola, The Sound of One Line Scanning, online text.
(7) Dietmar Kamper zit. in Siegfried Zielinski, [… nach den Medien], Berlin 2011, S. 101.
(8) Vgl. Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932, Darmstadt 1994 (4. Auflage) vor allem S. 97 und 111.
(9) Wir sprechen in diesem Zusammenhang deshalb auch nicht vom kósmos, sondern von den komoi, den trunkenen, tönenden und singenden Umzügen, die älter als die Dionysien sind.
(10) Hans Carl Artmann, how lovecraft saved the world, in: Ders., Die Fahrt zur Insel Nantucket. Theater, Neuwied und Berlin 1969, S. 418.
(11) Vgl. Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (II. Unzeitgemässe Betrachtung), in: Ders., KSA Bd. 1, Berlin/New York 1988, S. 249.
(12) Atropos ist die Dritte der Moiren; diejenige, die den Faden durchtrennt.

An English version of this original article „Dis-continuity & Presence of Mind“ by Andreas L. Hofbauer was 1st published in the print edition of DIS-CONTINUITY (CTM.14 magazine) translated by Alex Paulick-Thiel.

Pic out of R.H.W. Empson’s book on the Melek Taus of the Yezidi tribe.

Paradise Lost and Regained (CTM.13)

Guercino's Et in Arcadia Ego

{Bild: Schädel}

Vikar, exkommunizierter Theologiestudent, der seinen Namen mit einem K schreibt, trifft an einem Augustnachmittag in Los Angeles ein. Er streift auf dem Hollywood Boulevard herum und nicht allein dieser scheint ihm merkwürdig. Aber auch er selbst ist eine seltsame Erscheinung.

On Vikar’s shaved head is tattooed the right and left lobes of his brain. One lobe is occupied by an extreme close-up of Elizabeth Taylor and the other by Montgomery Clift, their faces barely apart, lips barley apart, in each other’s arms on a terrace, the two most beautiful people in the history of the movies, she the female version of him, and he the male version of her.

Vikar, der Protagonist aus Steve Ericksons Meisterwerk Zeroville (2007), ist ein Meister des Schnitts, ein geborener Filmeditor. Doch das wird er erst später herausfinden; erst einmal lebt er bloß in einer Welt, die sich ausschließlich aus Filmsequenzen zusammensetzt. Dabei ist er kein Cineast, sondern ein Cineautist. Er nimmt die Welt überhaupt nur über Ähnlichkeiten zu und in Bezügen auf Filme wahr. Er ist auch ein großer Träumer, wobei er immer unsicher bleibt, ob nun die Filme die Träume generieren, oder … Es gibt da nämlich einen immer wiederkehrenden Traum, in welchem er einen horizontal gelagerten Felsen [horizontal rock] sieht, an dessen oberem Ende eine glühend weiße Schrift geschrieben steht [glowingwhitewritingacrossthe top]. Oben auf dem Felsen befindet sich die Silhouette einer Figur, und der Felsen selbst hat einen Riss [chasm], aus dem tosender Sound [roaringsound] dringt. Nachdem er beginnt für ein Hollywoodstudio zu arbeiten, wo man rasch seine geniale Begabung Filme zu schneiden erkennt, und nachdem er auch an zahlreichen Produktionen in Europa mitgewirkt, ja sogar Joris-Karl Huysmans Roman Là-bas selbst verfilmt hat, fängt er an, Prints aller möglichen Filme zu sichten und solche auch selbst zu erwerben. Dabei muss er feststellen, dass in jedem Film, die er framefür framesichtet – sei es nun Dreyers La passion de Jeanne d’Arc (1928) oder ein Pornofilm aus dem Jahr 1982 – immer wieder ein frame findet, der genau dieses Bild aus seinem Traum zeigt. Das Gespenst von Monty Clift (oder eine Traumvision desselben) wird ihn später fragen:

„Doesn’t it seem strange,“ Monty says, „that there are twenty-four frames per second of film? That in every second of film are the number of hours in a day?“ He says, „What’s it mean that every second of a film is a day in the life of a secret film that someone’s been waiting for you to find in all the other films?“
„I don’t know. Perhaps,“ Vikar says, „someone is showing me a way out ofsomething.“
„Or a way in.“

{Bild: Zero}

Francesco Giovanni Barberieri schuf im Jahr 1618 sein Gemälde Et in Arcadia ego. Auf die breite und lang andauernde Debatte, wie man denn diesen Spruch richtig zu übersetzen habe, werde ich nicht eingehen. Die modale Spannung zwischen „Auch in Arkadien bin ich“ und „Auch ich war in Arkadien“ [„I, too, was in Arcadia“] reicht zur Verdeutlichung nicht aus, da man nicht bestimmt, auf wenn sich dieses Ich bezieht. Ich aber betone nun und versehe mit Stimme: „Selbst in Arkadien gibt es mich“ [„Even in Arcadia, there (am) I“]. Ich, der Tod.

{Bild: Schädel}

Es ist der Tod selbst, der ihn vielerlei Gestalt Arkadien durchstreift. Ihn darf man ebenso wenig aufgeben, wie man auch die Liebe nicht fahren lassen darf. Weder die zum anderen oder auch gleichen Geschlecht im Raum wie auch in der Zeit –zur je nächsten Generation.

Arkadien ist nicht Eden, das Goldene Zeitalter kein Paradies.

{Bild: Zero}

Martin Treml and Andreas L. Hofbauer for CTM.13 on SOUNDCLOUD (listen here)

Über Zeugen und Zucht

Ein Gespräch mit Andreas L. Hofbauer anlässlich seines Vortrages, gehalten am 17. Juni 2009 im Kunstpavillon München

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Begrüßung

Einen wunderschönen guten Abend meine Damen und Herren. Ich darf Sie recht herzlich zu unserer heutigen Abendveranstaltung begrüßen und Ihnen gleich ohne lange Umschweife unseren Gast vorstellen – Herrn Dr. Andreas Leopold Hofbauer, der aus Berlin angereist ist. Guten Abend, Herr Hofbauer.

Andreas L. Hofbauer :

Guten Abend!

Frage:

Herr Hofbauer – der Profession nach sind Sie Philosoph, doch haben Sie im Vorgespräch darauf hingewiesen, dass Sie diesen Abend eher unter dem Aspekt der Psychogeografie zu betrachten gedenken. Was hat es denn damit auf sich – oder besser noch: Was ist das überhaupt?

Andreas L. Hofbauer:

Nun, man könnte das Folgendermaßen umreißen: Der Begriff selbst geht genau genommen auf Guy Debord und Abdelhafid Khatib zurück, bei denen er sich 1955 erstmals findet. Debord dürfte ja dem einen oder anderen von Ihnen als Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale bekannt sein. Doch zweifelsohne gibt es da noch gewichtige ältere Vorläufer, ohne dass diese sich oder ihre Arbeiten so bezeichnet hätten. Thomas De Quincey zum Beispiel, Edgar Allan Poe und selbstverständlich Sigmund Freud. Dieser im Besonderen mit seiner Notiz über den Wunderblock und allgemeiner im Unbehagen in der Kultur. Gegenwärtig gibt es vor allem in Großbritannien neue Zweige dieses Forschungsfeldes, situiert zwischen Urbanistik, Geschichte, Psychologie und Kunst. Und freilich nicht zu vergessen der Politik. Implizit und explizit sind psychogeografische Untersuchungen oder Auseinandersetzungen immer auch politische Interventionen – keineswegs allerdings zu verwechseln mit dem, was sich früher einmal überaus schillernd als Geopolitik verstanden hat und auch neuerdings wieder in einigen Thinktanks zu reanimieren versucht wird. Psychogeografie ist Analyse und Intervention, nicht Ordnungsstreben. Sie entwickelt ausgehend von singulären Momenten, die oftmals zufällig, peripher oder beliebig scheinen, Spannungsfelder, die ihrerseits wieder zu Attraktoren für die Neuformulierung von Wissensbeständen wird. Es werden also nicht irgendwelche Muster aufgedeckt oder übergestülpt, sondern eher wird dem Raum gegeben, was sich idionsynkratisch aufdrängt.

Doch selbstverständlich ist auch die Psychogeografie wie jede andere menschliche Wissenschaft nicht viel mehr als eine flüchtige Fabel. Eine kurzfristige Verdichtung, die im besten Falle in Spannung versetzt und vielleicht Denken macht. Zweifellos aber ist sie eine Unternehmung, die nach sorgfältiger Unordnung verlangt.

Frage :

Mhm. Das klingt zwar auch reichlich schillernd, wie sie das hier beschreiben … Doch wie auch immer! – Was hat sich Ihnen bei ihren Unternehmungen nun also aufgedrängt?

Andreas L. Hofbauer :

Fangen wir ausnahmsweise von vorne an, wenn auch vorne niemals der Anfang ist. Auslöser für meine Einladung hierher war, wie man mir sagte, ein Kongressbeitrag, den ich für das Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und das Zentrum für Historische Anthropologie zum Millenniumsjahr 2000 im Neanderthal-Museum in Mettmann gehalten habe. Während sich die anderen Redner um kulturphilosophische und paläontologische Aspekte kümmerten, war mir die etwas seltsame Aufgabe zugefallen, mich Joachim Neander zu widmen – dem pietistischen Kirchliedautor und Prediger. Dieser hatte Gottesdienste seiner Gemeinde in den Kalksteinhöhlen des Tales, das man später nach ihm Neandertal nannte und wo man noch später, im Zuge des Kalkabbaus, diejenigen Knochen fand, in welchen der Elberfelder Gymnasiallehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott als erster “fossile Menschengebeine” zu erkennen glaubte, abgehalten. Joachim Neander hatte also in dieser Gegend, dem Gesteins, einer mit Höhlen durchsetzten Schlucht der Düssel – sagen wir es einmal so – ekstatische Treffen kleiner Gruppen von Gläubigen organisiert. Es wurde eine Menge gesungen und Gott gepriesen. Joachim Neander starb jung im Alter von nur 30 Jahren. Seine Höhlen (gewaltige Naturdenkmäler) und damit gleich auch das gesamte Kalksteingebirge der Umgebung wurden von der NeanderthalerActiengesellschaft für Marmorindustrie vollständig abgebaut. 1890 auch die Höhle, in der man die Knochen des eben gerade nicht Namen gebenden Neandertalers gefunden hatte. Kalkstein war ein wichtiger Zuschlagstoff für die Eisenverhüttung und wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts von entscheidender Wichtigkeit für die Kriegsproduktion. Vom Kalkstein blieb also ebenso wenig wie von Herrn Neander selbst. Sein Grab ist unbekannt, in Düsseldorf trägt eine Kirche seinen Namen, seine bevorzugte Höhle mit dem aus Naturstein geformten so genannten Neanderstuhl gibt es wie gesagt nicht mehr, und selbst sein berühmtestes Kirchlied Lobe den Herrn wird, wenn es heute noch gesungen wird, mit veränderter Melodie vorgetragen. Kurzum: Für jemanden, der am kryptischen Verschwinden interessiert ist, ein willkommenes Fressen – um es etwas derb auszudrücken. Als ich nun diesbezüglich mit der Örtlichkeit hier konfrontiert wurde, stieß mir gleich wieder ein Name auf, nämlich jener Josef Thoraks.

Frage :

Oho – Josef Thorak. Man konnte ja schon nach der Lektüre Ihres Ankündigungstextes ahnen, dass sie sich mit diesem Mann beschäftigen werden. Darauf wurde ich auch schon im Vorfeld angesprochen. Interessant. Und Sie haben ja auch jede Menge Bilder mitgebracht, aus denen ich – wie ich gestehe – noch nicht ganz schlau geworden bin.

Andreas L. Hofbauer :

Wenn wir die Sache und die Herangehensweise sozusagen von Oben her ausleuchten wollen (schließlich fällt ja das Licht nicht nur in Platons Höhle von Oben her ein, sondern auch in Oberlichtateliers; bei noch älteren Vorfahren freilich mag es auch etwas schief von der Seite her gekommen sein),dann erlaube ich mir kurz Baudelaire zu zitieren: “Mein Gehirn ist ein Palimpsest und deines auch, Leser. Unzählige Schichten von Vorstellungen, Bildern, Gefühlen haben sich nacheinander auf dein Gehirn gelegt, so sanft wie Licht. Jede dieser Schichten schien die frühere einzuhüllen. Aber keine ist in Wirklichkeit zugrunde gegangen.”

Ist nun oftmals das Unsichtbare viel interessanter als das Sichtbare, dann gilt das weit mehr noch für Abwesendes, das in seiner Abwesenheit allerdings irgendwie noch anwesend ist und bleibt, bisweilen durchscheint. Wenngleich man sich auch nie sicher sein kann, ob es als das durchscheint, was es gewesen war, oder doch eher als das, was es gewesen sein wird. Doch das würde hier jetzt zu weit führen. Kurz: Wir haben es mit einer Art von marginalem Rest oder einem Überbleibsel zu tun, aus dem Zeit und Raum mit ihren Aspekten der Präsenz und Materialität erst zu entspringen scheinen. Mit Erinnerungssplittern, deren Status ein prekärer ist, da wir nicht anzugeben vermögen, warum gerade sie auftauchen und was das genau zu bedeuten haben mag. Wie nun aber eben die Wirkungen den Ursachen voranzugehen belieben, stieß ich bei der Auseinandersetzung mit dem aktuellen Ort und Anlass hier eben auf stupende Parallelen oder Analogien zu dem Vortrag über Neander im Neandertal im Jahr 2000. Mir kam also die Idee, parallele Abwesenheiten entlang der Achse Berlin-München zu erkunden.

Frage :

Wollen Sie damit andeuten, die Person Josef Thorak selbst wäre Ihnen zu so einer Art Überbleibsel geworden? Erwarten Sie sich denn Erhellung, wenn Sie sich ausgerechnet mit ihm hier beschäftigen? Gleichzeitig wissen Sie sicher, dass Josef Thorak dieses Atelier hier niemals benutzt hat. Ja es ist nicht einmal gesichert, ob er es überhaupt jemals betreten hat. Die Atelier- und Studiobilder die Sie hier zeigen sind ja allesamt in seinem speziell für ihn von Speer erbauten Atelier in Baldham entstanden.

Andreas L. Hofbauer :

Gewiss doch. Aber wie gesagt ging es mir für den Anfang um parallele Abwesenheiten. Gestatten Sie mir also, das Pferd doch noch einmal anders aufzuzäumen. (Ein passendes Bild allemal, denn nicht Josef Thorak oder sein Name werden sich als marginaler Rest und abwesender Zeuge für das hier von mir Gesagte erweisen, sondern ein Pferd oder genauer deren zwei. Aber dazu später.)

Recht rasch stieß ich bei meiner Recherche zu Thorak auf ein Buch, welches man nur in Sonderlesesälen und Raraabteilungen von Bibliotheken einsehen kann, will man nicht einige hundert Euro dafür anlegen, es antiquarisch zu erwerben. Kurt Lothar Tanks Deutsche Plastik unserer Zeit, versehen mit einem knappen Geleitwort des von Ihnen eben erwähnten Reichsministers Albert Speer. München 1942. Raumbildverlag. Die Erstausgabe ist in feines Kalbsleder gebunden und mit etwas mehr als 100 kleinen Doppelfotografien versehen, die man aus dem Buch herausnehmen kann. Eine davon, die, auf der sich ein Rosschwanz avantgardistisch gewagt in den Vordergrund drängt, sehen sie auch hier. Das Buch ist wenig beeindruckend und stellt vier Bildhauer vor, die idealtypisch für nationalsozialistische Plastik stehen sollen. Unter ihnen Josef Thorak und Josef Wackerle, der draußen den Neptunbrunnen verfertigt hat. Der Duktus dieses Buches ist, wie sich unschwer ahnen lässt, lobhudelnd und ideologisch gefällig. Erstaunlich dennoch, dass derselbe Herr Tank Jahre später, um genau zu sein 1966, dabei offenbar wenig Aufsehen erregend, eine Biografie über Günther Grass auf den Markt gebracht hat. Diese erschien – und auch das wird uns später noch Anlass zu Gelächter geben – in einer Reihe des Colloquium Verlages die den Titel trägt “Köpfe des XX. Jahrhunderts”. Nun war auch Thorak ein gottbegnadeter Kopf- und Büstenmacher. Nietzsche und Hitler, Pilsudski und Mussolini, Fritz Todt (sein Du-Freund und Gründer der Organisation Todt) und Kemal Atatürk, Max Schmeling (sein Freund und Nachbar in Bad Saarow) und Goebbels, Hindenburg und Friedrich II. … und sogar lange bevor er sich in die Arme der Bewegung gestürzt hatte auch eine Büste von Wilhelm von Bode. Gründer des vormaligen Kaiser-Friedrich-Museums in Berlin, das heute seinen Namen trägt, und der selbst einen schmalen Band zu den Werken Meister Thoraks verfasste. – Doch ganz abgesehen von diesem Kuriosum, von dem vermutlich nicht einmal Herr Grass selbst weiß, lieferte Tank mir alle Sätze, die mit einem Schlag die Verbindungslinien zu Thorak und dem, was sie hier hören und hören werden herstellten. “Der Künstler [i.e. Thorak] hat die Urkraft des Pferdes erschaut … Im Schatten der riesigen Pferde versinkt das Gipsmodell des Autobahnmonuments …” schreibt er, noch ganz im Banne eines vorangegangenen Atelierbesuchs. “Thorak liebt das Kreatürliche – Hunde laufen im Atelier herum, Rehe im weiten Park, in den Ställen stehen Pferde – er liebt die Blumen …” Und dergestalt müssen wir, Tank folgend, in seinen ins riesenhafte gesteigerten Werken erkennen, dass sie “Zeugnis ablegen nicht nur von der Größe des Planens, sondern auch für die Größe des Vollbringens in unserer Zeit [sprich: in diesem Falle im 3. Reich].”

Josef Thorak wurde am 7. Februar 1889 in Wien geboren. Gleich nach der Geburt zog seine Mutter mit ihm wieder nach Salzburg, wo her sie stammt und mit ihrem Mann, einem gebürtigen Ostpreußen, lebte. Er wird früh Waise und verbringt seine Kindheit und frühe Jugend in Heimen. Mit dem Priesterberuf, für den ihn seine Mutter bestimmt sah, wird es nichts. Er geht auf Wanderschaft und erlernt in Bulgarien das Töpferhandwerk (auch sein Vater war übrigens Töpfer), also einen zweifellos schöpferischen Beruf mit einem Ahnherren, um den ihn andere Berufsstände beneiden. Wenngleich auch vieles dabei auf tönernen Füßen stehen mag … doch lassen wir das beiseite. Nach seiner Rückkehr besuchte er zuerst die Akademie der Bildenden Künste in Wien, später studierte er in Berlin. Seit 1920 lebte er mit seiner Frau ersten Frau Herta und seinem beiden Söhnen Siegfried und Klaus in Bad Saarow. Von ihr lässt er sich 1926 scheiden. Seine zweite Frau ist Hilda Lubowski. Sie war eine Schwester des jüdischen Arztes Oskar Lubowski aus Berlin, der lange Zeit Hausarzt der Riefenstahl war. Leni attestiert ihr auch in ihren Erinnerungen eine schöne Person zu sein. Vielmehr als diese Bescheinigung und ein Reisepass, auf dessen erster Seite das rote J für Jude aufgestempelt ist, ist von Hilda Lubowski und ihrem gemeinsamen Sohn mit Josef Thorak Peter nicht geblieben. Nach dem Kriege gelten sie als verschollen oder spurlos verschwunden. Thorak hat sich sofort 1933 von ihr scheiden lassen, wenn gleich er sie auch eine Zeit lang weiter in seinem Haus leben ließ, ehe sie sich endgültig zur Emigration gezwungen sah. Clemens Holzmeister schlug Thorak eine gemeinsame mit Frau und Kind in die Türkei vor. Sowohl Max Schmeling als auch Louis Trenker, seine beiden engen Freunde, versuchen ihn zu überzeugen, er solle sich beim Führer persönlich dafür stark machen, eine so genannte “Sondergenehmigung” zu erhalten. Also die Erlaubnis, weiterhin mit einer jüdischen Frau zusammen zu leben (wie dies etwa auch Hans Moser gewährt wurde). Thorak lehnt ab. Nach 1945 wird er versuchen die Sache so darzustellen, als ob das Regime ihm seine Frau und das Kind entrissen hätten. Freilich sind bis zu seinem Tode 1952 keinerlei Versuche nachzuweisen, dass er jemals wieder herausfinden wollte was aus seiner zweiten Frau und seinem Sohn geworden ist.

Josef Thorak erweist sich überhaupt in jeder Hinsicht als konsequenter Karrierist. Noch ehe Goebbels am 11. Februar 1937 in sein Tagebuch notieren kann: “Thorak ist unsere größte plastische Begabung. Dem muss man Aufträge geben”, hat er schon ein weit verzweigtes Netz von Kontakten zu einflussreichen Proponenten der Partei gesponnen. Seinen Willen zur Großplastik und zum heldischen Pathos hat er ebenfalls bereits unter Beweis gestellt. Unter anderem beim Kemal-Atatürk-Denkmal in Ankara (mit sich aufbäumenden Ross) und dem türkischen Befreiungsdenkmal in Eskisehir, die man heute noch bewundern kann, wenn man denn will. 1935 nimmt er schon in Berlin an der ersten großen Kollektivausstellung nationalsozialistischer Kunst teil. Das Vorwort des Katalogs hebt ihn lobend hervor und rühmt den “Willen zur Auslese als … Kernstück des nationalsozialistischen Kulturprogramms”. 1937 wird er zum Professor der Kunstakademie München ernannt. Im selben Jahr noch bestückt er bei der Weltausstellung in Paris das Deutsche Haus (also den deutschen Pavillon), den sein Freund Albert Speer entworfen hatte, der später auch das Haus, also Atelier, für seine Gigantoplastiken in Baldham bauen wird, mit martialischen überlebensgroßen Figuren (Kameradschaft und Familie), die dem Vernehmen nach auch den Gefallen Stalins, der schräg gegenüber residierte, fanden. Er kommt auf die Sonderliste der zwölf wichtigsten bildenden Künstler des Reichs, die von allen anderen Aufgaben mit Ausnahme der Schöpfung entbunden sind, auf die so genannte “Gottbegnadeten-Liste” oder auch schlicht “Führerliste”. Erste Neider stellen sich ein, werfen ihm vor, nicht einmal Parteimitglied zu sein und nun andere von dem ihnen zustehenden Platz zu verdrängen. Thorak appelliert direkt an Hitler, dass er ja schon 1933 Mitglied werden wollte, die Beitrittsbescheinigung aber irgendwie verloren ging. Dem Gerücht nach will ihm der Führer höchst persönlich seinen Mitgliedsausweis aushändigen, daraus wird jedoch nichts. Dennoch erhält er sein Parteibuch rückdatiert auf 1933 und mit einer niedrigen Mitgliedsnummer. 1937 ist er schon bei der Vorbereitung auf die Große Deutsche Kunstausstellung vertreten. 1939 schließlich bei der feierlichen Eröffnung im Haus der Deutschen Kunst in München stellt sich die “Urkraft” seiner Pferde (mit und ohne Reiter) bereits ins Rampenlicht. Von nun an sind seine Werke dort in jedem Jahr zu bewundern. Zwischen 1937 und 1944 stellte er insgesamt 47 Skulpturen aus. Sein Rang als Bildhauer wird ihm nur noch von einem streitig gemacht, dessen Stern noch heller strahlt als seiner. Arno Breker.

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Frage :

Hatten Sie nicht vorher betont, dass eine psychogeografische Untersuchung, wie der Name ja ebenfalls nahe legt, eng mit geografischen Gegebenheiten verbunden ist? Können Sie vielleicht, ehe sie zu den Pferden kommen, deren Bedeutung bei alldem sich mir immer noch nicht recht erschlossen hat, etwas näher ausführen worin der Zusammenhang zwischen dem Kunstpavillon und dem Haus der Deutschen Kunst besteht? Der ist ja recht nahe liegend und deshalb frage ich gleich weiter – warum denn Thorak und nicht Josef Wackerle?

Andreas L. Hofbauer :

Sie haben völlig Recht. Zuerst einmal zu den Orten. Nachdem der Glaspalast, der sich auf dem Gelände befand, auf dem wir uns gerade befinden, 1931 aus unerklärlichen Gründen ausbrannte und unzählige Kunstwerke ein Raub der Flammen wurden, gab es die Überlegung, die Anlage hier neu zu gestalten. Paul Ludwig Troost, das große (und wie Speer später betonte – beruhigende) Vorbild für Hitler in Sachen Architektur und der nachmalige Baumeister des Führers, der allerdings schon 1933 starb, hatte dazu Pläne entwickelt, jedoch nicht eingereicht. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als für Hitler ein für allemal klar war, dass, wie er in der Eröffnungsrede am 15. Oktober 1933 dann auch betonte, “München wieder die Hauptstadt der deutschen Kunst werden soll”, war der Alte Botanische Garten nicht mehr als Standort für das Haus der Deutschen Kunst vorgesehen. Nach den Skizzen von Troost wurde hier eine Parkanlage nach den Plänen des Architekten Oswald Bieber und des Bildhauers Joseph Wackerle errichtet. Das so genannte “Kleine Ausstellungsgebäude”, also der Pavillon hier, wurde an der Stelle des ausgebrannten Glaspalastes errichtet. Angeblich war er als Atelier für Thorak gedacht, diesem aber nicht groß oder hoch genug. In seiner Rede zur Eröffnung der ersten Großen Deutschen Kunstausstellung in München am 19. Juli 1937 bemerkte Adolf Hitler dann dort drüben (also nicht hier): “Nun aber werden – das will ich Ihnen hier versichern – alle die sich gegenseitig unterstützenden und damit haltenden Cliquen von Schwätzern, Dilettanten und Kunstbetrügern ausgehoben und beseitigt. Diese vorgeschichtlichen, prähistorischen Kultursteinzeitler und Kunststotterer mögen unseretwegen in die Höhlen ihrer Ahnen zurückkehren, um dort ihre primitiven internationalen Kritzeleien anzubringen. Das Haus der Deutschen Kunst in München ist gebaut vom deutschen Volke für seine deutsche Kunst.”

Doch es ist richtig: In der Tat stehen sich die beiden, ich meine jetzt Wackerle und Thorak, im Sinne des vorher kurz umrissenen Parallelgebildes Berlin-München nahe. Schließlich treffen sich auf dem Berliner Olympiagelände sogar Skulpturen Wackerles und Thoraks. Der Rossebändiger Wackerls und der Boxer Thoraks. Und auch in Tanks erwähnten Buch, stehen die beiden Seite an Seite. Und wahr ist auch, dass der Neptunbrunnen hier draußen vor der Tür, auch diesen Neptun als “Rossbändiger” zeigt. Allerdings hat dieses Ross einen Fischschwanz. Wie dem aber auch sei – ich habe mich an Thoraks Fersen geheftet. Und Ihnen auch ein rares Bild mitgebracht, das hier irgendwann vorbeidefilieren sollte, das Adolf Hitler und Witwe GerdyTroost zeigt, wie sie unter der Urkraft der Hufe eines Thorakschen Pferdes angeregt scherzen und sich freuen.

Frage :

Also ich gestehe ganz offen, dass mir die Parallelisierungen und Verschiebungen, die Sie hier vorbringen immer rätselhafter werden. Trotzdem: Was hat es denn nun mit diesen Pferden auf sich, die Sie uns hier beständig vor Augen führen?

Andreas L. Hofbauer :

Ja nun – die Pferde. Soviel gäbe es dazu zu sagen, wozu ich aber keine Zeit finden werde. Pferde sind ja Tiere die das Weite suchen. Keine Höhlenbewohner. Deshalb drängten sie sich mir auch auf in diesem Zusammenhang auf oder ich ließ mich auch von ihnen mitreißen. Zähmung, Domestizierung und Zucht – an sich schon erstaunliche und bemerkenswerte Gebiete – ließen sich hier ausmessen. Wie ein roter Faden zieht sich vor allem durch die totalitär-ideologische Kunst das Bild des gebändigten Pferdes. Selbst noch das “springende Pferd” Thoraks hat noch etwas von gewaltsamer Zähmung und Zügelung an sich. Dioskuren führen allüberall die Rosse, zwingen sie in Façon.

Doch ich will mich gar nicht darüber verbreitern. Und ich kann mich hier auch nicht auf die schrecklichen weißen Pferde aus den Alpträumen von Kubins Anderer Seite einlassen, welche die Nachtseite der Domestikation sind oder auf die Pferde aus John Hustons Film Misfits, in denen sich eine blonde Marylin Monroe am Ende selber erkennt. Es mag das Bild Johann Heinrich Füsslis in diesem Zusammenhang genügen, welches Sie hier sehen können. Eine Kopie desselben Bildes hing schließlich auch im Behandlungszimmer Sigmund Freuds in der Berggasse. Was vom Vergleich, das Ich verhalte sich zum Es, wie der Reiter zum Pferd zu halten sei, überlasse ich Ihnen. Was es hier also zu bändigen gab und worüber man sich dabei hysterisch täuschte, welche Rosstäuscherei also in der Tat im Gange war, kann nur an anderer Stelle ausgeführt werden.

Ich fahre deshalb fürs erste damit fort, welche konkrete Zeugenschaft das Pferd in Sachen Thorak spielt.

Beinahe alle Großplastiken von Thorak wurden niemals realisiert. Es existierten zumeist nur Modelle oder Entwürfe. Etwa die Bekrönungsgruppe für das Märzfeld am Reichsparteitagsgelände in Nürnberg mit der Siegesgöttin in der Mitte (deren verkleinerte Version im Skulpturensaal des Hauses der Deutschen Kunst zu sehen war) flankiert von den zwei Pferdebändigern. Das riesige Denkmal der Arbeit, das 30 Meter hoch an der Reichsautobahn Salzburg-München stehen sollte – Mercedes machte mit dem Bild eine Werbekampagne und für ein halbes Jahr wurde auch ein kleineres Modell am Walserberg aufgestellt, was ein wenig an die gefakten Hausfassaden erinnert, wie man sie heute häufig um den Potsdamer Platz, Unter den Linden und auf der Leipziger Straße (auf die ich gleich noch kommen werde) in Berlin finden kann. Vieles wurde nach dem Krieg zerstört oder verschwand in Depots. Die beiden erwähnten Figurengruppen aus der Pariser Weltausstellung hatte Thorak selbst 1949 einer Landshuter Gießerei zur Einschmelzung überlassen. In Salzburg stehen noch zwei “wertvolle Plastiken”, die er im Gegenzug der Stadt schenkte, die ihm dafür zuvor das “arisierte” Schloss Prielau bei Zell am See überschrieb, das bis dahin im Besitz der Witwe von Hugo von Hofmannsthal war. Thorak kassierte horrende Honorare für niemals finalisierte Projekte. Bittbriefe gingen immer wieder aufs Neue hinaus, um mehr Geld für seinen aufwendigen Lebensstil zu akquirieren. Bonzen kaufen ein mit Geld, das nicht ihnen gehört. Speer überweist fleißig und stellt noch mehr in Aussicht. Er versieht seine Spenden gar mit lustigen Gedichten. “Was nützte ein halber Friederich / ein halber Prinz Eugen ? / Und Großfiguren, die mühselig / auf einem Beine stehn? … Drum schick ich lieber / was er braucht [der Meister; ALH] und sei’s auch bares Geld. Drum schick ich rasch das Scheckerl / dem armen Jupp Thoräckerl.” Der werkelt bis zum Schluss in der Höhle seines Ateliers, raucht wie ein Schlot, leibt sich gewaltige Mengen Alkohol ein und fährt mit diversen Freundinnen und dem Reichsminister höchstpersönlich nach Sizilien, um gemeinsam die Kunst der Antike zu begreifen (was zwar unterhaltsam gewesen sein mag, aber mehrheitlich zu nichts weiter als Missverständnissen führte), lebt also in Saus und Braus. Am Ende aber gleicht alles doch dem Führer, der in der Höhle des tiefen Bunkers, hinter dem sich die Stelle befindet, an der er und Eva Braun ihr letztes Loch finden werden und unweit davon heute nur noch ein simpler Gulli daran erinnert, auf sein riesiges Modell von Linz starrt und parallel über Kuppelbauten mit dem Durchmesser von 250 Metern und einer Höhe von 220 Metern sinnierte. Bekanntermaßen sollte auch die Berliner Kuppel der Halle des Volkes oben eine Lichtöffnung haben. Durchmesser 46 Meter. Sie wäre damit größer gewesen als die Gesamtkuppel der Peterskirche. Was für ein Geburtskanal, könnte man meinen. Doch am Ende alles nur Totgeburten.

Frage :

Ich hoffe sie nehmen es mir nicht übel, aber … Wollten sie nicht irgendetwas zur konkreten Zeugenschaft (!) der Pferde (!) sagen?

Andreas L. Hofbauer :

Ach ja – verzeihen sie, ich bin abgeschweift. Also: Nachdem ich bei Tank wie erwähnt vom Pferde bei Thorak las, fiel meine Aufmerksamkeit auf seine zwei vielleicht elegantesten Pferde. Nämlich auf die, die in der Neuen Reichskanzlei in Berlin auf der Gartenterrasse für Hitler und seine Gäste aufgestellt wurden. Eine dieser beiden Bronzen war zuvor zentrales Ausstellungsstück im Haus der Deutschen Kunst in München gewesen, wurde später durch ein zweites ergänzt und hernach dort (eben in Berlin) aufgestellt. Verdichtung und Verschiebung, Verdopplung und Parallelisierung par excellence sozusagen. Wie sich herausstellte, ereilte nun eines der Pferde ein groteskes Schicksal, das sich aber – wer weiß? – zum Schluss noch zum Guten gewandt haben mag. Nach 1945 verschwand das eine der beiden Pferde, das andere aber wurde nach Eberswalde verbracht und dort aufgestellt. Ausgerechnet auf dem Gelände des Sportplatzes der dort befindlichen sowjetischen Kaserne. Unweit von Skulpturen von Franz Klimsch, Arno Breker und Spruchbändern sowjetischer Propaganda fristete es dort mehr oder weniger unbeachtet und konfrontiert mit scheinbar völliger Unkenntnis seiner Herkunft sein DDR-Dasein, um dann für immer zu verschwinden. Die letzte Aufnahme und Sichtung erfolgte im Jahr 1988. Wohin es verschwand, ist ungewiss. Unzuverlässigen Quellen im Internet zufolge hat es einen Stall bei anonym bleiben wollenden Sammlern gefunden, doch ich neige eher zur Ansicht, dass es jetzt, frei von seinen Bändigern, über die immergrünen Wiesen des Unbekannten galoppiert. Nun hatte sich also zu Verdichtung, Verschiebung Verdopplung und Parallelisierung (wichtigen Koordinaten nicht nur der Sprachforschung, sondern auch der Psychogeografie) noch das Verschwinden hinzugesellt, die Abwesenheit.

Es war nun nur noch nötig, ihre vormaligen Standorte am Gelände der Neuen Reichskanzlei in der Berliner Voßstraße zu dokumentieren. Wir begaben uns also für Film- und Fotoaufnahmen dorthin, lokalisierten anhand alten Planmaterials die Gartenterrasse und filmten mit riesigen Häuserattrappen im Rücken die Orte, an denen die Pferde standen. Doch was fanden wir dort? Just anstelle eines Pferdes (von dem wir selbstverständlich ja wussten, dass es nicht mehr da sein würde)? Ein kleines liegendes Häschen. Es war wohl weit von seinem Bau entfernt uns saß da, zitternd – ganz mutterseelenallein.

Frage :

So, so. Ein Häschen. Mutterseelenallein! Und – was haben Sie nun daraus wieder gefolgert?

Andreas L. Hofbauer :

Es hat uns frappant an ein Nippes-Häschen erinnert. Eines aus Porzellan.

Frage :

Nippes? Porzellan?

Andreas L. Hofbauer :

Ja. Und dabei befand es sich hier doch gerade (und wir selbstverständlich auch) in unmittelbarer Sichtweite zur Leipziger Straße 13. Dort gibt es heute nur mehr eine seltsame Glasfassade und eine Tür, die den Zugang zu einer brachliegenden Wiese verwehrt. Vor kurzem stand auf diesem Gelände noch eine andere Höhle, das Hightech-Haus der T-Com. Computerisiert wie ein Raumschiff und Tag und Nacht voller Rummel. Typisch Hauptstadt eben. Jetzt ist dort wie gesagt nichts mehr. Noch etwas früher befand sich allerdings an dieser Stelle das Flagshipstore, wie man das heute nennen würde, der Porzellan-Manufaktur Allach-München GmbH. Wirtschaftsunternehmung der SS, direkt im Verantwortungsbereich RF-SS Heinrich Himmler. Im Auftrag von “Ahnenerbe” wurde nicht nur die “Geistesurgeschichte” der Deutschen erforscht, sondern auch für den Hausgebrauch Buckelurnen mit Odalsrunen, Jul- und Sonnwendleuchter, Teller und Tassen, Ziethenhusaren en miniatur, und kleine Tierfiguren wie “Springendes Pferd” und “Junger Hase, liegend” hergestellt.

Verhielt sich Hitler zwar hämisch gegenüber der von Himmler und der SS betriebene Verherrlichung germanischen Urwesens (ganz zu Schweigen von den Ansichten Rosenbergs, für die er nur Gelächter übrig hatte), so schätze er sehr wohl Gebrauchskunst, die in jedem deutschen Haushalt zu finden sein sollte. Zu den Bemühungen Himmlers um prähistorische Ausgrabungen äußerte er hingegen: “Warum stoßen wir die ganze Welt darauf, dass wir keine Vergangenheit haben? Nicht genug, dass die Römer schon große Bauten errichteten, als unsere Vorfahren noch in Lehmhütten hausten, fängt Himmler nun an diese Lehmdörfer auszugraben und gerät in Begeisterung über jeden Tonscherben und jede Steinaxt die er findet. Wir beweisen damit nur, dass wir noch mit Steinbeilen warfen und um offene Feuerstellen hockten, als sich Griechenland und Rom schon auf höchster Kulturstufe befanden. Wir hätten eigentlich allen Grund, über diese Vergangenheit stille zu sein.”

Gut, soviel dazu. Doch nun zurück: Als die Belegschaft der Porzellanmanufaktur mehr und mehr für Kriegszwecke eingesetzt wurde (sprich: an die Front kam), musste trotzdem der Betrieb aufrechterhalten werden, da Prof. Theodor Kärner, Thoraks Kollege an der Akademie in München, immer neue Entwürfe vorlegte, die schließlich in die Wohnzimmer der Volksgenossen kommen sollten. Deshalb wurde aus den Außenlagern Dachaus und aus Dachau selbst, später auch aus anderen Konzentrationslagern, trotz der ausdrücklichen Missbilligung dieses Vorgehens durch Himmler, Häftlinge in die Manufaktur Allach verbracht, wo sie unter anderem Häschen und Pferde aus Porzellan herstellten. Galt in den Lagern selbst der Himmler-Befehl von der “Vernichtung durch Arbeit”, der Effizienzmaximierung in der Rüstungs- und Zulieferindustrie geschickt mit Exterminierung zu verbinden wusste, so war eine Überstellung in die Porzellanmanufaktur, aus der keine Tötungen bekannt sind, ein sicherer Weg, den Transporten oder Kommandos zu entgehen. – Prof. Thorak war für die Porzellanmanufaktur Allach künstlerisch beratend tätig, er forderte Häftlinge für sein Atelier an und war dafür verantwortlich, dass das Wort “reserviert für Thorak” unter den Häftlingen der Lager den Beiklang und das Versprechen einer zweiten Geburt erhielt.

Frage :

Sind diese Geschichten um Pferde und Plätze, um Thorak und die Vergangenheit also Gleichnisse? Welche Schlüsse sollen wir daraus ziehen, wenn es denn welche zu ziehen geben sollte?

Andreas L. Hofbauer :

Keinesfalls sind das Gleichnisse. Es sind Bei-Spiele – und zwar im Wortsinne. Und Schlüsse mag ein jeder ziehen, wie es ihm oder ihr gefällt. Auch denke ich nicht, dass es hier wirklich um historische Vergangenheit oder der moralischen Auseinandersetzung mit dieser geht oder gehen soll. Vielmehr scheint es mir von Interesse zu sein, wie jeweils das Verhältnis zum anderen (also auch zum anderen, der stört oder nicht ins Bild passt) in der Zeit ausgehandelt wird. Was also das Band der Generation oder der Filiation spannt. Im Deutschen gibt es ja ein noch schöneres Wort, das dieses Band der Teilung zeitlich und räumlich an- und ausspricht: Geschlecht.

Hier ließe sich auf der einen Seite unschwer zeigen – und derlei wurde auch bereits häufig unternommen – wie in den Entwürfen des Titanischen der Versuch unternommen wird, das Weiblich-Mütterliche abzustreifen, während es im selben Zug gerade phantasmatisch simuliert wird. Das ist zuweilen nicht frei von Lächerlichkeiten. Bei Thoraks Figurengruppe Paris Urteil buhlen die drei Schönen beinahe schon so kokett aufgesetzt, dass sie heute wieder bei einer beliebigen Deutschlands-Next-Sexy-Hausfrau-Show mitmachen könnten, wären sie nicht aus Stein oder Gips. Paris selbst lehnt auf seinem überlangen Stecken und sieht aus, als wolle er ob des Angebots gleich vornüber kippen. Thoraks Skulpturen sind ja überhaupt asexuell und nicht allein deshalb auch auf gewisse Weise ungeschlechtlich (können also mit dem anderen in Zeit und Raum eigentlich nichts anfangen). Etwa die keusche weibliche Mittelfigur (Siegesgöttin) für die Bekrönungsgruppe in Nürnberg, welche die Beine zusammenpresst, den Kopf tief gesenkt hält und stattdessen den stummen Kranz des O hochreckt. Freilich ohne jede libertin-devote Ausstrahlung der Dame gleichen Namenskürzels. Bissig hatte Thorak später gerade dies als Rechtfertigung angeführt und dazu bemerkt: “Sehen sie da ein Hakenkreuz drinnen? – Eben!” Nun kann auch ich hier beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen, um Martin Kippenberger zu paraphrasieren, doch gerade deshalb sehe ich vielleicht nichts anderes. Unbestreitbar aber ist die Leere. Wilhelm von Bode hatte schon 1929 über Thorak geschrieben, dass diesem “auch in der Darstellung des Nackten alles Erotische oder Sinnliche ganz fern” liege.

Man spürt also förmlich den Mangel an einer offenen Stelle, den Mangel an plastischem Spielraum. Keine Fuge weit und breit. Alles ist in Bewegungslosigkeit erstarrt und der Kollaps kann gerade deshalb jeden Augenblick eintreten. Nicht umsonst besitzt unser Schädel Fontanellen und Nahtstellen, weil das Gehirn zu schnell und später weiter wächst, die Kalotte daher beweglich bleiben muss, nicht nur dann, wenn sie den engen Bereich des Beckens verlässt, um sich in der Zeit weiter zu bezeugen. Notwendig ist es für uns alle, uranfänglich eine Spalte im Kopf zu haben, wenn diese auch von einer Membran geschützt ist, die verhindert, dass der Regen einschlägt, wie das der Dichter Thomas Brasch einmal ausgedrückt hat.

Frage :

Wollen Sie damit etwa auf die von Ihnen eingangs zitierte Stelle von Baudelaire anspielen? Licht, das von oben her eindringt und das Gehirn gleich einer beschichteten Fotoplatte belichtet?

Andreas L. Hofbauer :

“Licht ist heute die Grundbedingung erfolgreichen Handelns.” Dieser scheinbar aufklärerische Satz stammt von Adolf Hitler. Kult soll nur sein, was zur Pflege des natürlichen und göttlich Gewollten dient, geübt “vor dem offenen Antlitz des Herrn.” Doch das ist freilich irreführend. Nicht göttlicher Herr oder Natur sind es, sondern der andere, vor dessen Antlitz wir stehen. Idealtypische Konzepte, wie das von der gesunden Rasse, mussten natürlich erschauern, wenn sie auf ihre Entwicklungsgeschichte zurückschauten. Der ungenannte Porträtist Hitlers, der wohl versucht hatte, diesen so genau als möglich wiederzugeben, wurde im “Schwarzen Korps” dafür gegeißelt, er würde Hitler wie einen Neandertaler erscheinen lassen. Man stellte dort fest, dass “ein Künstler, der versuche den Führer zu gestalten, eben mehr sein müsse als ein Künstler”. Aber was mehr? Wohl Züchter und Projektor eines Phantasmas. Denn Kunst war für Adolf Hitler selbst ja nichts anderes, als die “Ausstrahlung der eigenen Erbmasse in die Zukunft”.

Frage :

Dann hätte Josef Thorak wenigstens mit seiner Führerbüste doch gar nicht so danebengelegen. Sie haben ihn ja selbst in Ihrer Voreinladung zitiert. Hitler sei mit der Büste unzufrieden gewesen. “Er hat die mangelnde Ähnlichkeit gerügt. Aber ich bin kein Porträtist. Ich habe sie künstlerisch geformt und die Charaktermerkmale des Kopfes hervorgehoben. Das waren die Kauwerkzeuge.”

Andreas L. Hofbauer :

Ja. Das fand ich amüsant. Schließlich lautet ja die neueste Theorie zum Verhältnis von Homo neanderthalensis und Homo sapiens vom französischen Anthropologen Fernando Rozzi, die erst kürzlich für Schlagzeilen sorgte, dass letzterer ersteren gefressen hätte. Und gerade dieser Umstand soll ausgerechnet anhand der Knochenreste der Kauwerkzeuge des Opfers bewiesen werden. So als ob die Phantasmenproduktion ein gewaltsames Ende finden musste, indem sie sich der Homo sapiens wieder einverleiben musste. Das gibt Anlass, sich im Verzeihen zu üben. Schließlich soll man ja bekanntlich nicht nur seinen Nächsten lieben wie sich selbst, sondern auch sein Symptom.

Frage :

Ein weiteres Zitat aus ihrer Vorankündigung stammt von Grabbe. “[S]o erscheint die Himmelswölbung mir beinahe als das Inn’re eines ungeheuren Schädels und wir als seine Grillen!” Das ist doch eine ganz schreckliche und ausweglose Vorstellung! Eine Höhle gleichsam, die man niemals verlassen könnte? Oder wollen Sie etwa esoterisch andeuten, die Fontanelle sei ein Ausgang?

Andreas L. Hofbauer :

Fragen wir uns zuerst doch noch, was geblieben ist von Josef Thorak und seinem Werk. Welche anwesenden Zeugen oder Ruinen gemahnen noch an ihn? Ein wenig mehr, als der Name einer Kirche und ein Lied zwar, doch nicht viel mehr. Ein paar Skulpturen im öffentlichen Raum, eine Josef-Thorak-Gesellschaft ewig Gestriger, die mich schon bei der kleinsten Nachfrage beschimpften. Kein Adler thront auf der Weltkugel, die er in seinen Fängen hält, sondern eine Madonna mit Kind aus weißem Carrara Marmor, steht nun – bei der letzten Skulptur Thoraks nach dem Kriege – auf ihr, die von einer Schlange gewürgt wird in der Benediktiner Abtei in Ndanda Tansania, südlich des Sudan, wo Riefenstahl ihre Nuba fand. Thorak liegt in Salzburg auf dem St. Petersfriedhof neben seiner Mutter in einem Grab unter den Arkaden begraben, das er schon in den Vierziger Jahren unter Mitwirkung des Salzburger Gauleiters Dr. Gustav Adolf Scheel (derselbe, der ihm auch zu seinem SchloßPrielau verholfen hatte) erworben hatte. Nun fand er wohl Ruhe und Einkehr, die er vor allem später so gesucht hatte, gesteigert bis ins Weinerliche und Frömmelnde. Doch Aussagen wie “Geben die denn nie eine Ruh’?”, sind nicht allein für Thorak typisch. Die Münchner Spruchkammer erklärte Josef Thorak 1948 auf alle Fälle für “nicht betroffen”. Also “entnazifiziert”. Zwei Berufungsverfahren gegen diesen Bescheid scheiterten.

Albert Speer hatte die Theorie vom Ruinenwert begründet, die Hitler ausgesprochen gefiel. Bauten und künstlerische Artefakte sollten eine Traditionsbrücke zu künftigen Generationen bilden. Gleichzeitig war natürlich nur jemand, der derselben Rasse entstammte später im Stande zu sehen und zu verstehen, welche Größe hier übrig geblieben. Man wollte sich selbst zum Objekt der Bewunderung in der Zukunft machen. Auch Kunst und Architektur waren Geburtskanäle dieser Zeitreise. Portrait des Künstlers als Fossil oder Ruine. Die Bauwerke sollten im Verfallszustand, gleich dem Forum Romanum oder der Nike von Samothrake, in hunderten oder gar tausenden von Jahren bestaunt werden. Auch diesbezüglich ist man gescheitert. Beinahe restlos ist alles verschwunden und nur eifrige Psychogeografen entdecken hie und da noch Bilder von oder schriftliche Dokumente sogar noch über niemals fertig gestellte Modelle.

Doch noch einmal zurück zu dem zitierten Grabbe. Vollständig lautet das Zitat: “[S]o erscheint die Himmelswölbung mir beinahe als das Inn’re eines ungeheuren Schädels und wir als seine Grillen! – Ich bin eine, die er, wie sehr ich auch mich sträube, im Begriff ist zu vergessen!” Es ist ein tröstlicher, wenn auch unwahrscheinlicher Gedanke, dass wir irgendwann aus dieser Höhle einfach verschwinden könnten. Weder zugrunde gehen, noch uns mit titanischer Überanstrengung aus ihr emporrecken, sondern einfach verschwinden und (uns) im Vergessen sein lassen. Dinge verwehen und treiben ab. Eine Störung, ein Flackern oder ein Nacht- oder Tagrest aus dem Alptraum. Dann bricht ein neuer Tag an. Ohne …

Elf Jahre nach Josef Thoraks Tod wurde 1963 eine Straße im Salzburger Stadtteil Aigen nach ihm benannt. Bis heute gibt es Bestrebungen, diesen Namen zu entfernen und die Straße umzubenennen. Ich fände das ganz richtig und auch reizvoll, nicht zuletzt deshalb, weil man dann dort filmen und neue Recherchen anstellen könnte.

Frage :

Ich denke, wir sind jetzt am Ende angelangt. Der Abend ist schon weit fortgeschritten und ich gebe gerne zu, etwas erschöpft zu sein. Deshalb halte ich es für besser, von einer Diskussion Abstand zu nehmen. Sollten Sie noch weitere Fragen haben, so bin ich mir sicher, dass sie der Vortragende im Anschluss gerne beantworten wird. – Ich bedanke mich bei Herrn Hofbauer für seine Ausführungen und bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld. Auf Wiedersehen.

Andreas L. Hofbauer :

Ja – herzlichen Dank, dass Sie hier waren und … Gute Nacht!

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Dank an: Heinrich Dubel, Susanna Kalivoda, Theo Ligthart, Kristina Loos, Christina Mittag, Andreas Templin & Inken Wagner.