but … Billy Budd

Von welchem Schlag ist also Billy Budd, aus welcher Art und welchem Geschlecht ist er geschlagen, zu welchem geschlagenen Geschlecht mag er gehören? Sind es gerade die vorgeblich Unschuldigen, die sich schuldig machen oder verzeiht man ihnen ihr Vergessen nicht? Ist Schuld überhaupt nur Oberflächenphänomen, welches, gleich der weißen Wand des Wals, aus den Tiefen auftaucht und wir wollen (im Sog Ahabs) es durchbrechen? Spricht man aber überhaupt von unschuldig schuldig gewordenen, wenn man im Namen Billy Budds spricht – und was hieße das überhaupt? Wir, von der Rasse Kains, sind immerhin gezwungen, in ein Land aufzubrechen das Nod heisst, ins Land der Ruhelosigkeit und Flüchtigkeit (wie das hebräische nad bedeutet). Wegzugehen aus dem Angesicht des Vater-Gottes, ausgezeichnet zu überleben. Der Konflikt eines Nebeneinanders (der Brüder und des Geschlechts) hat sich so in die Zeit gespannt und ist Konflikt entlang der Zeitachse geworden. Nicht allein ob man des Bruders Hüter sein soll, des Hirten Hirt, steht in Frage, sondern ob man für die Kommenden zeugen kann. Dies ist vielleicht weniger eine Frage der Filiation und deren Politik, vielleicht weniger Frage der Einsetzung, sondern der Freisetzung, der Garantie einer rückhaltlosen Entbindung, die es vermag eine Kohärenz von Körpern zu wahren, ohne dabei das Unendliche fahren lassen zu müssen. Eine Vertäuung der über-lebenden Immanenz. Das heißt jedoch, das elende Bedürfnis nach Schaffung und Schöpfung aufzugeben, das wir sogar Gott andichten, vielleicht bloß, um uns selbst zu Göttersöhnen (und -töchtern) zu machen. Die Unfähigkeit sich eine andere Hand vorzustellen, als die, die bei Tisch (womöglich gar aus Liebe) Brotmännchen formt, die andere Hände schüttelt, um sich des eigenen Seins zu versichern, die, sichtbar oder unsichtbar, immer vermittelt und herstellt, der Welt Gestalt gibt. „Ich nehme mit einem geringern Vater vorlieb; wenigstens werd ich ihm nicht nachsagen können, dass er mich unter seinem Stande in Schweineställen oder auf den Galeeren habe erziehen lassen“, sagt in Georg Büchners Dantons Tod die Figur des als Spinozisten und Atheisten charakterisierten Thomas Payne. (1) Die Erschöpfung und das Aufhören, das Enden, verschreibt sich einer Insistenz, die sich weder auf ein Transzendentes stimmt, noch dabei aber den schmerzhaften Aufbruch verleugnet. So bewegt sie sich, zuweilen starr, ohne sich im geringsten zu rühren, weg. Solch aufbrechendes Gehen bricht auch immer zu einem verlorengegangenen Kind auf. Es entdeckt nicht (sich als) das verlorengegangene Kind (sei es der Sohn oder die Tochter), nicht einmal das Verlorengegangene – sondern es geht verloren. Abgegangen wird hier vom Wollen oder Willen des Wissen, wie auch vom Nichtwissen. (2) Inauguration einer Bahnung des Vergessens. If you are ready to leave father and mother, and brother and sister, and wife and child and friends, and never see them again, – . . . then you are ready for a walk, schreibt Thoreau. Man kann dies in eine Entgegnung verwandeln, deren Ton unentscheidbar zwischen Frage und Forderung oszilliert – are you ready for a walk . . .
Merkwürdig mutet in diesem Zusammenhang ein Brief an, den Herman Melville seiner Tochter Bessie vom Pazifischen Ozean aus am 2. September 1860 zukommen lässt. „Diese Vögel [hier] haben kein Zuhause, außer einigen wüsten Felsen mitten im Ozean. Sie sehen niemals einen Obstgarten, und kennen den Geschmack von Äpfeln & Kirschen nicht, wie dein fröhlicher kleiner Freund in Pittsfield, Herr Robin Rotkehlchen. – Ich könnte dir noch vielmehr Dinge über die See erzählen, aber ich muss den Rest verschieben, bis ich nach Hause komme. . . . Ich nehme an, du hast recht viele Spaziergänge auf den Hügel gemacht, und die Erdbeeren gepflückt. Ich hoffe, dass du gut auf Klein Fanny aufpasst, und daß du, wenn du auf den Hügel gehst, so gehst: [hier folgt eine kleine Zeichnung Melvilles, die einen Baum und etwas Gesträuch zeigt, sowie zwei beinahe winzige Gestalten, die sich an den Händen halten] das heißt Hand in Hand. Leb wohl, Papa“. (3) So, als ob es doch möglich sei, die Faust in die flache Hand zu entfalten, wie Johann Georg Hamann dies gefordert hat, und sich die Hände zu reichen. So, als ob es vielleicht dem Aufbruch des Vergessens nach nichts mehr verlangte, als eben nach dieser einfachen, singulären und einfältigen Handreichung, das Wagnis dieser unwahrscheinlichen Berührung, die weder führen noch hüten will.
In welchen Namen also wird man sprechen, wenn man im Namen von Billy Budd zu sprechen wähnt? In welchem Namen spricht man mit der Vorsicht und dem Bedacht, die Spinozas Motto waren und deren Wort er sich in seinen Siegelring eingravieren ließ – caute – und für welche Unabhängigkeit also? (4) Wenn man spricht im Namen von bud, der Knospe oder der jungen austreibenden und -schlagenden Triebe, im Namen der unterentwickelten Wesen; oder im Namen unser aller Brüder; Bruder, wie das umgangssprachliche Amerikanisch bedeutet – aber auch im Namen des Spross, der Töchterchen und Söhnchen? But, Aber . . .

(1) Georg Büchner, Dantons Tod, in: Ders., Werke und Briefe, München 1975, S. 39.
(2) Vgl. dazu Thomas Schestag, Schrittstellen, in: Oswald Egger (Hg.), Rhythmus. Wiener Vorlesungen zur Literatur 1996/97 (Der Prokurist 19/20), Wien/Lana 1998, S. 37.
(3) Zit. nach More Light, And The Gloom Of That Light. More Gloom, And The Light Of That Gloom , in: Die Republik (82-85/1988), S. 191 f.
(4) Vgl. Leo Strauss, Das Testament Spinozas, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 1996, S. 422.

Excerpt out of ” … thus snapping the chain -” (Ablösungsversuche, Wien 2001) by Andreas L. Hofbauer