Andreas L. Hofbauer translated Tom McCarthy for Blumenbar Verlag Berlin. “Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur” (Berlin 2010)
Tag: Andreas L. Hofbauer
… on a voyage of pleasure from Dunkirk to China

The author Andreas L. Hofbauer tries to look like a blond version of Malcolm Lowry.
(Photo: Kristina Loos)
Dandy in der Unterwelt
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Cover Design: Krish Klose
Photo: Kristina Loos
Sebastian Horsley’s Dandy in der Unterwelt translated from the English by Andreas L. Hofbauer for Blumenbar Verlag/Munich
Zwei Novembernächte (expositorisch)
In zwei Nächten – nämlich der vom 18. auf den 19. und von diesem wiederum auf den 20. November 20XX – treffen folgende Personen / Masken aufeinander.
FRANZ SCHUBERT (gest. am 19. November 1828), OWEN CHASE (1. Maat und Überlebender des Walfängers Essex, der am 20. November 1820 von einem angreifenden Wal versenkt wurde und dessen Aufzeichnungen später Herman Melville zu seinem Roman Moby Dick inspirierten), Rev. JIM JONES (der am 18. November 1978 über den größten Massenselbstmord der Geschichte, nämlich den seiner Sekte The Peoples Temple in Guyana präsidiert) und FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH von ÖSTERREICH (späterer Kaiser von Mexiko, am 19. Juni 1867 hingerichtet). Durchschossen wird dieses Treffen durch eine OFF-STIMME, die auch ein wenig den Autor (geb. am 19. November 1967) vertritt.
1. Nacht: Vorzimmer eines Bordells. Man wartet auf die Damen. Einrichtung beliebig.
2. Nacht: Vorhölle. Man wartet auf Luzifer. Es bleibt dunkel, bis auf den Glanz der Neonlichter.
Die Sprache: gespenstisch-spektral. Das erpresserische Diktat der Kommunikation ist ausgesetzt, die Gabe der Mitteilung aber unerreicht. Erzwungene Verworfenheit, psychotische Rede und Widerrede. Angestrebt ist keine Ausbeutung etwaiger Zahlenmystik, sondern die rissigen Psychogramme sind Belichtungen aus der Dunkelkammer der Träume, in denen sich Zufall und Notwendigkeit verschränkt haben werden.
Short synopsis for the stage play 2 Novembernächte by Andreas L. Hofbauer
Seide wird zerrissen, um sie besser verstehen zu können

Ca. 20’ Laufzeit. Loop. 2 Schauspieler. Eine Frau. Ein Mann. Frau: ca. 30 Jahre alt. Trägt ein historisches Kleid. Helle Farbe. Wirkt ein wenig wie ein Kittel (jedoch ohne Anklänge an Upperclass oder Heilanstaltsinsassin). In der Mitte durch Mieder versteift. Mann: ca. 50 Jahre. Neutral gekleidet. Nicht historisch. Möglicherweise gedeckter schwarzer Anzug. Raum: Trägt der Idee “Falte” Rechnung, indem er mit Mollton (weiß) ausgekleidet ist.
Der gesprochene Text bleibt möglichst nah am Original. Interaktion zwischen den beiden Figuren ist zumeist nur gestisch und figuriert sich entlang des Textmaterials. Die Frau spricht zuweilen in der dritten Person über sich, so als ob sie über eine Freundin oder eine ihr bekannte Person spräche. Die Konversation und die Reden bleiben gespenstisch. Vagheit herrscht vor. Keine Kommunikation im eigentlichen Sinne.
[Großaufnahme; Gesicht des Mannes frontal; während er spricht, fährt die Kamera zurück]
Mann:
Ich saß auf dem Stuhl nicht wie gewöhnlich, sondern rittlings, und der Sitz war mit Samt überzogen. Da mir die Empfindungen angenehm waren, habe ich es noch einmal gemacht; aber niemals hatte ich von dergleichen reden hören. Der Gebrauch des Fingers ist erst später gekommen.
[Frau; nun neben dem Mann im Profil]
Ich habe geheiratet, um ein schönes Kleid aus schwarzer Seide zu haben, das aufrecht steht. Nach meiner Heirat zog ich noch Puppen an; das tue ich noch immer gern. Die Seide hat ein Rauschen, ein Zirpen, das mich kommen lässt. Schon das Wort Seide sagen hören, oder sich die Seide im Gedanken vorstellen genügt, um eine Erektion der Sexualorgane hervorzurufen. Der vollständige Orgasmus stellt sich bei der Berührung und vor allem bei der Reibung der Seide an dieser Region ein. Jeden Tag gab ich mich der Masturbation hin. Die normalen sexuellen Beziehungen verschaffen mir keinen Genuss.
In den großen Warenhäusern habe ich oft gestohlen. Mein Strafregister verzeichnet 26 Verurteilungen. Einmal wegen Entwendung eines Seidenkleides, das ich nach dem Diebstahl zusammengerollt und unter dem Rock zwischen meine Schenkel gesteckt habe. Eines Tages trat ich in ein großes Warenhaus ein, getrieben wie von einem Zwang. … In der Seidenabteilung faszinierte mich ein Kleid aus heller blauer Seide, es stand aufrecht. Eine Seide, die nicht steif steht, sagt mir nichts. Darauf war Spitze. Ich habe dieses Kinderkleid genommen, habe es unter meinem Rock verschwinden lassen, in einer großen Tasche mit einem Zipfel habe ich das Kleid genommen und damit masturbiert, mitten im Geschäft, beim Aufzug, dann im Aufzug, wo ich am meisten Genuss hatte. In diesen Momenten schwillt mein Kopf, mein Gesicht wird karmesinrot, die Schläfen schlagen, nur so kann ich genießen. Danach nehme ich den Gegenstand oder lasse ihn. Als man mich überraschte, warf ich ihn weg. Ich habe ihm sogar einen Fußtritt versetzt. Masturbation allein macht mir kein großes Vergnügen, aber ich vervollständige sie, indem ich an das Schillern und das Rauschen der Seide denke. Manchmal, wenn ich mit der Seide masturbiere, habe ich sogar an Männer gedacht. Auch wenn mir der Mann nichts macht.
Ich liebe die Seide, die ganz allein steht.
Excerpt of a screenplay, written together with Theo Ligthart for a Video-Installation (not executed yet) on Gaetan Gatian de Clérambault and the erotics of touching fabrics. We used original lines (translated by Walter Seitter) put on the record by female inmates of the police asylum, in which Clérambault used to work in Paris.
second-hand experience / stormscene
… teuflisch kalt gegen den Wind zu reisen. Schöner Tag – freundliche Menschen.
Herman Melville, Tagebuch einer Reise von New York nach London 1849
Letzte Windmaschine vor der Schlacht!
Blixa Bargeld, Headcleaner
Geht es nach der Beaufort-Skala (begründet durch den späteren Knight Commander of the Bath Francis Beaufort der British Navy), dann sind die 120 km/h wie sie die Windmaschine Andreas Templins in dessen Installation „Sturmszene“ zum Einsatz bringt gewiss ein Sturm, gar ein Hurrikan. Zugleich stellt diese Windmaschine aber auch die Basis einer Simulation dar, mehr noch eines Simulakrums 2. Ordnung. Wieso das? Weil die Szene in die sich der Rezipient versetzt findet einem Filmset gleicht, in dem er/sie als Akteur oder Akteurin selbst zur Erfahrungsoberfläche wird. Ist jedwede Wahrnehmung notwendig Distanznahme (sonst ließe sich außer Rauschen und Brausen gar nichts erfahren und man ist deshalb eigentlich immer irgendwie im Auge des Orkans), so wird dies hier erhebend anschaulich gemacht, da ein vorgeblich reiner Naturalismus durch Verschränkung von Artifiziellem, Technisch-Akustischem und Maschinischem entlarvt wird. Dennoch bleibt diese Erfahrung jetzt nicht nur auf‘s Optische und Akustische (wie im Kino selbst) beschränkt, sondern erfährt einer Erweiterung dadurch, dass eine bestimmte örtliche Gegebenheit zum anderen Schauplatz des Drängens des Unmittelbaren verwandelt wird. Nichts weniger denn eine mise-en-scène und ein rite of passage im selben Zug. Ironie und Humor finden hier also ihre Anwendung als künstlerische Waffe und erstatten somit dem Sturm auch seine kriegerische Wortbedeutung zurück.
Doch nicht zu vergessen bleibt: Wir haben es hier auch mit einer wundersamen Äolsharfe zu tun! Denn schließlich: Wie der Wind heftiger hervorstößt,/ ein holder Schrei der Harfe/ Wiederholt mit zu süßem Erschrecken,/Meiner Seele plötzliche Regung;/ Und hier, die volle Rose streut geschüttelt/ All ihre Blätter vor meine Füße! (Eduard Mörike)

Andreas L. Hofbauer for Andreas Templins installative work for the public space comissioned by the City Council of Nuremberg, Germany – stormscene (2005). This installation took place in a medieval pedestrian’s tunnel leading to the historical center of Nuremberg. A strong wind-machine of Munich filmstudios was placed in the beginning of the tunnel. The light was changed and a big soundsystem installed. With David Canisius of Deutsches Kammerorchester/ Yellow Lounge a selection of highly dramatic classical music was edited for this evening and replayed constantly. The visitors could pass through the tunnel and found themselves in the middle of a filmset-like “stormscene”. After passing through the tunnel they got handed a text written by Dr. Andreas L. Hofbauer, titled “second-hand experience”.
Zu zweit ist man weniger allein, zu viert ist man noch weniger allein

Andreas L. Hofbauer together with friends gettin’ ready to attend Bianca Regls and Robert Munteans exhibition in Österreichische Botschaft Berlin 26. Oktober 2008 … Almdudler anyone?
(Photo: Theo Ligthart)
Drache

Die schlange kriecht oder ringelt sich auf dem boden,
stehen ihr flügel zu gebot, so heißt sie drache.
(Jakob Grimm „Deutsche Mythologie“)
Eine Schlange, die noch keine andere gefressen hat, wird kein Drache. [Serpens, nisi ederit serpentem draco non generetur.]
(Hier zit. nach: Heimito von Doderer „Die Wiederkehr der Drachen“)
Sehr geehrter Herr Pfarrer,
Ich danke Ihnen bestens für die ungemein interessante Darstellung. Es ist eine Art von Ritter St. Georg, bei dem aber der untere Teil ein Drache ist. Eine durchaus ungewöhnliche Darstellung! Es ist, wie wenn darin das Bewußtsein ausgedrückt wäre, daß der Drache die untere Hälfte des Menschen ist, was in Tat und Wahrheit ja auch der Fall ist. Man kann daher dieses Bild gut als eine Darstellung des innern Konflikts auffassen oder auch als das Gegenteil, nämlich als einen Ausdruck der Tatsache, daß Drache und Held eigentlich zusammengehören und eines sind.
Diese Einsicht ließe sich aus der Mythologie schon einigermaßen belegen und hätte sehr weitreichende Folgen, wenn sie vergleichend religionshistorisch untersucht würde. Mit vorzüglicher Hochachtung und bestem Dank,
Ihr ergebener
(Carl Gustav Jung an Pfarrer Jakob Amstutz am 23.I.1948)
Lange schon war der Krieger allein geritten und längst hatte er die Zahl der Tage vergessen die verstrichen waren, seitdem er seinem Volk und der großen Armee den Rücken gekehrt hatte. Das hohe Bergmassiv lag weit zurück als er das Wäldchen erreichte, von dem er wusste, dass hinter ihm die große Steppe begann.
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Ein letztes Mal hielt er inne um sich umzuwenden. Mit einem Ruck riss er sich los von dem Bild, dessen er gewahr wurde und trieb seine Pferde weiter vorwärts.
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Das Wäldchen war nicht groß, doch immer wieder verlor er die Orientierung. Es schien ihm, als wäre er acht Pfaden gefolgt, die ihn aber immer aufs Neue zur selben Weggabelung zurückführten. An dieser Wegkreuzung hielt er nun erneut inne und sah sich um. Überlegte für eine Weile; sollte er wieder einen der schon berittenen Pfade wählen um zu versuchen den Irrtum seiner Abirrung herauszufinden? Doch er entschied sich anders und wählte den neunten Pfad. Vorwärts brach er durch das Unterholz und zwischen den Bäumen hindurch -, geradewegs, bahnend, vorwärts.
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So erreichte er das Gestade eines gewaltigen Sees der ihm auf den ersten Blick noch größer schien denn die Steppe, in der sich dieser ausbreitete.
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Aus der hohlen Hand trank er Wasser, kniend, neben seinen Tieren. Sein Blick fiel allein und starr auf das sich im Wasser spiegelnde Antlitz eines ihm Fremden.
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All dies geschah in einem Zeitraum von dem wir nicht zu sagen vermögen, wie lange er währte.
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Kurz nachdem er sich nahe des Feuers über dem er Tee bereitete hingekauert hatte wurde er am Horizont einer Gruppe Menschen gewahr, die auf ihn zustrebten. Befremdlich schien ihm dies, da sie nicht zu Pferde waren, wie hier jedermann. Befremdlicher noch, da es sich offenbar um eine Art Prozession wichtiger und bedeutender Leute handelte, was er aus den mitgeführten Standarten und der Art wie die Gruppe einher schritt schließen zu müssen glaubte. Still und beinahe reglos erwartete er ihre Ankunft.
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Die Gruppe die hernach vor dem Krieger stand umfasste folgende Personen: 1. Der Fürst (als einziger unter einer Art Baldachin, der von vier Sklaven getragen wurde und ihn sogar vor der fahlen Sonne dieser Jahreszeit schützen sollte), 2. seine Gemahlin, die Fürstin 3. einige Kleine Gemahlinnen (der Krieger zählte sie nicht), 4. drei Söhne und eine Tochter, 5. einige Damen (auch sie zählte der Krieger nicht), 6. ein paar Vasallen, 7. die Weisen, 8. drei weitere Weißbärte, 9. einige Träger und 10. ein Grüppchen Soldaten.
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Der Fürst schritt unter seinem Baldachin hervor und trat grüßend auf den Krieger zu, der sich erhoben hatte. Nahe trat er an ihn heran, der seinen Kopf nur kurz gesenkt hielt und dem Fürsten dann gerade ins Gesicht blickte. Nach einer Weile sagte der Fürst:
– Das Feuer in Deinen Augen und die Glut Deines Gesichts versichern uns, dass Du einer derjenigen bist, nach denen wir Ausschau halten. Ich bin der Fürst dieser Provinz und treuer Knecht des hochmächtigen Khan, dessen Reich ohne Grenzen ist und welches du sehr wohl kennst. Sein Name sei geheiligt und wer ihm den Respekt versagt soll sterben. Wende Deinen Blick nach Westen und Du wirst meines Ails ansichtig werden. Siehst Du meine prächtige weiße Jurte in der Sonne funkeln? Weit, weit reicht mein Land und meine Herden sind zahllos.
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Doch großes Unheil hat sich über uns ausgebreitet. Höre von einem meiner weisen Berater, worin es besteht.
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Ein hochbetagter Weißbart trat nun neben den Fürsten. Seine Worte lauteten:
– Krieger! Ein Mogur bedroht die Gegend. Ein schrecklicher Drache. Zuweilen erhebt er sich aus den Wassern dieses Sees, an dessen Ufern wir hier stehen. Er steigt hoch und gewaltig auf und spannt seine schwarzen ledrigen Flügel, damit sich die Sonne verdunkle. Aus seinem schnabelförmigen Rachen stößt er das Gekreisch des Vogels Pfau, nur tausendmal lauter. Seine Forderung ist klar. Er will das Fleisch unserer Herden und unserer Töchter, das Fleisch unserer Prinzensöhne schon kurz nach ihrer Geburt. Sein Hunger ist niemals gestillt. Mehr und mehr haben wir ihm vorzuwerfen. Der Khan sandte uns mutige Krieger, doch keiner konnte den Drachen besiegen. Zuweilen verführt dieser Drache seine Opfer gar, indem er sie in einen blinden Wahn reißt. Bewusstlos warf sich mancher schon in seine Klauen. Man erzählt gar von Schafen, die sich vor seiner hochaufgefahr’nen Gestalt auf den Rücken warfen und ihre Bäuche zur Zerreißung hinhielten.
Der Mogur ist in allen Elementen zu Hause. Er steigt hoch auf in die Lüfte. Er bricht durch den Sand der Steppe. Er ist klein wie ein Seidenwurm und im nächsten Augenblick groß wie der heilige Berg, der schon war bevor unsere ältesten Ahnen das Licht dieser Welt erblickten. Es ist eine Erscheinung, die in ihrer Pracht über alle Ufer tritt. Vereinend die gleißende Macht des Mittags mit dem Sturz des Lichts in dunkelste Nacht.
Regelmäßig erscheint er dort drüben am anderen Ufer des Sees neben den Höhlen. Dort zollen wir ihm auch den geforderten Tribut und ebendort erwarteten ihn die Krieger zum Kampfe.
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Nachdem der Alte geendigt hatte, trat er wieder zurück in die Gruppe. Abermals blickte der Fürst den Krieger an und ergriff erneut das Wort:
– Gehe hin und töte den Mogur für uns! Nach erfolgter Tat werden wir Dich einladen und Dir die Gastfreundschaft erweisen, die einem Helden gleich Dir gebührt. Es soll dir an nichts mangeln. Es wird ein hunderttägiges Fest geben. Die schönsten Sklavinnen werden Dein sein. Aus dem Brunnen, der so fein gefertigt und beinahe so groß wie der des Khans ist wird Tag und Nacht Kara-Kumys und Wein fließen. Du wirst an meiner Seite sitzen und jeder soll dich höher achten als meine eigenen Söhne. Ich werde nicht länger dein Fürst sein, sondern ein neuer Vater. Geh hin und töte den Mogur und gegeben soll Dir sein, was du wohl schon immer begehrtest. Die Macht und die Glorie des Ruhm’s ewigen Friedens. Wenn du beendet hast den steten Wahnsinn der Opferungen. Sieh’ uns hier mit dir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters, das nie enden mag.
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So sprach der Fürst zum Krieger. Und die Weisen nickten und die Prinzessin lächelte, etwas geistlos möglicherweise, aber vielleicht auch nur verschämt.
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Und auch der Krieger nickte.
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– Lasst uns ein Rauchopfer tun!
Sie verbrannten Wacholder.
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Nachdem der Fürst und sein Gefolge die Lagerstatt des Kriegers verlassen hatte, schlief dieser eine Nacht tiefen, traumlosen Schlafes. Am nächsten Morgen bestieg er sein Pferd und umrundete den See in Richtung der Höhle, die ihm der Weise gewiesen.
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Fauliger muköser Gestank überall. Doch er stieg hinein tiefer ins Labyrinth der Höhle. Sah die Gebeine, die zerbroch’nen Bogen, die verrosteten Helmzieren all seiner Vorgänger. Die gebroch’nen Schwerter und Schutzwaffen. Er kroch – durch ihre Gebeine hindurch – tiefer und tiefer hinein. Und mit wildem und mutigem Schrei rief er den Drachen um ihn zu fordern. Seine Stimme echote zwischen den Knochen, die umher lagen wie die ausgespienen und erbrochenen Worte verzweifelter Dichter. Und er schlug an den Stein der Wände, er fluchte in den Staub des Bodens, er lief zurück zum Eingang der Höhle und heulte seine Forderung gen Himmel, um dann wieder in die Tiefen des Abgrunds zu tauchen.
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Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrich.
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Wir wissen nicht, wie viel Zeit verstreicht.
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Doch wenigst fühlte er wie er schwächer und schwächer wurde. Und sein Arm konnte das Schwert nicht mehr halten. Ab warf er den Helm und schlohweißes Haupthaar begleitete diesen Fall. Nun kroch er mehr, als er schritt. Er suchte den Eingang zu finden, nochmals. Er war weiterhin gewahr der Knochenberge ringsum.
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Und wieder erreichend den Höhleneingang sank er nieder und richtete den Blick auf die Weite des Sees. Mit einem Schlag, das heißt viel zu spät, verstand er nun, dass es niemals einen Drachen gegeben hatte, sondern nur die Schickung seiner Vorväter und –mütter unter der Belagerung des Worts „Die Rache ist mein“. Er sank nieder im Schutt seiner Umgebung. Müdigkeit nahm ihn nun ein. Als ob der bodenlose Schlaf die Rettung wäre vor dem Entsetzen der Traumtage!
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Bewahret einander vor Herzeleid,
denn kurz ist die Zeit die Ihr zusammen seid.
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„Nach diesem Lächeln in seinem Gesicht zu urteilen, ist er glücklich gestorben.“
„Das ist kein Lächeln. Das ist ein Rictus. Eine Menge Leute, die nicht glücklich sterben, grinsen so.“
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Möge dies Grinsen Anzeichen gewesen sein für die Einsicht, dass es niemals einen Drachen gegeben haben wird. Im Himmel ist alles Gewicht der Welt; auf Erden ist aller Schmerz der Welt.
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Und sterbend wandelte sich das Antlitz des Kriegers zum ungekannten Gesicht. Was uns zu sehen bleibt, sind die Haufen blanker Knochen, in jenes unendlich matte Weiß getaucht, mit dem ein nie enden wollender Wind sie versehen hatte. Von der Zeltstadt her brüllt Zimbel, Flöte, Muschelhorn und das große Becken. Die Stimmen der jungen Mädchen dröhnen verächtlich in ihrem Gesang. Die Weisen kreischen ihre Gebete. Der Fürst reibt geduldig seine Hände. Die Prinzen bereiten sich vor. So wie sie es alle schon tausend Kalpas zuvor getan.
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Die weiße Verzweiflung, nicht aus dieser Welt fallen zu können.
Andreas L. Hofbauer, Märchen
Mythos Neanderthal

Andreas L. Hofbauer on Joachim Neander (2000).
Lying around (underwear)

Books by the author Andreas L. Hofbauer (together with some leftovers; Photo Manfred Reuter)
Oikos

(Photo by Christina Mittag)
Andreas L. Hofbauer (author of Ökonomien der Sprache) poses in front of a greek building, giving us some hint about the real nemein of oikos.

Andreas L. Hofbauer tries to bring some light into “this side of hell” (Lee Hazelwood). And prays for all the mariners who found their wet grave in the oceans of this world. (Pic by Bianca Regl)
Nicht versäumen: Pandrogyn!
Wie wohl wäre mir, könnte ich etwas
sein, das weder Frau noch Mann wäre. Gäbe es das,
würde ich sogleich darin wohnen möchten.
(Unica Zürn)
Füttert man die Internetsuchmaschine Google mit dem Wort pandrogyn, so taucht sofort die Frage „Meinten Sie: androgyn?“ auf. Nun – nein, meinten wir nicht!
Die (englische) Wortschöpfung pandrogyne geht auf die Avantgarde- und Underground-Ikone, der Erfinder des Industrial, Musiker (Throbbing Gristle, Psychic TV), Performer und Autor Genesis P-Orridge und seine Lebensgefährtin Lady Jaye (die sich als eine Art Personalunion verstehen und unter ihrem gemeinsamen Namen Breyer P-Orridge leben und arbeiten) zurück. Ein solches pandrogyn ergänzt nicht allein eine Zweigeschlechtlichkeit und Zweideutigkeit (ausgehend von den beiden Stammsilben andr-/gyn-) um einen Buchstaben, sondern erweitert diese in Richtung eines All-Zusammenhangs, der sich von seiner binären Ausgangsidee verabschiedet. Dies wird allerdings nur durch eine altbekannte Fehlableitung möglich. Schon der antike Stoizismus hatte das griechische to pan als das All übersetzt und im logos pan menyon das alles Anzeigende ausgemacht. Dürfte die etymologisch korrekte Herleitung zwar vom mykenischen aiki-pata (Hirt/weiden) herrühren, so wollen wir uns dennoch getrost von einem creative misreading leiten lassen. Darüber hinaus handelt es sich bei pandrogyn und Stoff/Textil – von Letzterem werden wir gleich sehen, dass es die entscheidende Aufzeichnungsfläche unserer Unternehmung ist – ohnehin nicht um Begriffe. Doch spielt hier das Fehlen von Begriffsdefinitionen keinerlei Rolle, gilt doch ganz allgemein: „Wir sind unfähig, die Begriffe, die wir gebrauchen, klar zu umschreiben; nicht, weil wir ihre wirkliche Definition nicht wissen, sondern weil sie keine wirkliche ,Definition‘ haben. Die Annahme, daß sie eine solche Definition haben müssen, wäre wie die Annahme, daß ballspielende Kinder grundsätzlich nach strengen Regeln spielen.“ (Ludwig Wittgenstein)
Jenseits der mittlerweile gut eingespielten, etablierten und mit zahlreichen Meriten versehenen Gender Studies, den Verhandlungen der Geschlechterdifferenz und einem zu Weilen fröhlichen gender blending liegt, sozusagen als unbestellte und verwilderte Zone im sorgfältig kartierten Feld des Sexuellen, die Region erogener Körper. Sie sind nicht auf die Umrisse der Anatomie reduzierbar, auf die Fassungen der Biologie beschränkt oder kulturell durchgeformt. Vielmehr wird von ihnen her das ganze bislang vertraute Schema, was ein Körper sei, worin sein Erotismus bestünde und was er zu schaffen vermöchte ungewiss. Erst eine – durch eine lange Kette (etwa von Spinoza über Freud bis hin zu Butler oder Preciado) von Untersuchungen nachgewiesene – Besetzung und Produktion von Zonen körperlicher Erogenität ist dafür verantwortlich, dass und wie sich sexuelle Körper überhaupt aus- und umformen. Ihr Geschlecht ist vorerst demnach weder eins noch zwei. Sexuelle Körper werden erst über ein komplexes Signifizierungsgeflecht von Narzissmus, Alterität und passionierter Inanspruchnahme hervorgebracht. In diesem Zusammenhang also bezieht sich pandrogyn weniger auf das sexuelle oder kulturelle Geschlecht und seine Konstruktion und Repräsentation, Differenz oder Austauschbarkeit, sondern auf die Stofflichkeit erogener Formationen. Da Lust nicht vorrangig über die Funktionen des Geschlechtsapparats gesucht und gefunden wird, operiert sie vielgestaltig und merkwürdig in und an Körpern, die „Ensembles erogener Zonen“ (Serge Leclaire) sind; spiegelt sich in deren Oberflächen, durchlöchert sie, dringt in sie ein, wird von ihnen ausgestülpt, verbindet sich mit Auslagerungen anderer Körper usw. Pandrogyne Körper verstehen wir demnach als produktive Vernähungen und Verstrickungen von Phantasmen, Schnitten, Sprechakten, Gelenken, dem Denken, obsessiven Besetzungen etc., die den Ausbildungen von Körperbildern und Identifizierungen vorausgehen. Sie sind chiasmatisch (χ) und ausgefranst. Unregelmäßige Umschläge von CHI und ICH.
Pandrogyne Körper beschränken sich keineswegs auf menschliche Körper. Sie entstehen auch aus verschiedenartigen Mischverhältnissen mit nicht-menschlichen und so genannten unbelebten Gegenständen und sind folglich Kompositkörper. Weichen sie auch weitgehend den Rastrierungen von gender und sex aus oder erweitern diese erheblich, so bedeutet das freilich nicht, dass diese Dimensionen nichts mit ihnen zu tun haben. In erster Linie aber sind pandrogyne Körper psychoplastische! Pandrogyn bringt folglich den Aspekt der Plastizität ins Spiel, anstatt, wie gesagt, weiter den Ordnungen von Repräsentation, Mimesis und Rollenperformanz zu gehorchen, die unter der Herrschaft einer ideologisch erpressten Flexibilität stehen. Auch hinsichtlich des Aspekts einer gegenkulturellen Taktik sollte dabei nicht übersehen werden, dass eine solche Plastizität so manche Formen schafft und generiert, andere zugleich aber auch sprengt.
Ich bin der Stoff, der mich umhüllt. Dies ist auch ein Kurzschluss von Auto- und Panerotik. In der Wirklichkeit dieser Annahme ist das Pandrogyne mit dem Textilen verflickt. Man braucht daher gar nicht auf die esoterische Idee zurückgreifen, dass alle Materie Stoff des ehemaligen Kleides der aus dem höchsten Himmel gestoßenen Engel sei und die dem Menschen von Gott zugewiesene Arbeit darin bestünde, dieses Kleid wieder zu retten (Alchymie). Man erkennt auch ohne diese Erzählung leicht, dass die Leidenschaft am Stoff zwischen etwas Engelhaftem und dem Obszönen changiert. Die Einfalt des nackten Körpers und des reinen Geistes (die es recht eigentlich gar nicht geben kann) wird mit einer Vielzahl von verführerischen Implikationen geimpft, die von der Drapierung zur Hosennaht, von der Wand zum Gewand reichen. Und im Zuge dessen werden einige beliebte Fragen überflüssig, andere gewinnen an Kontur: Gibt es einen weiblichen Fetischismus? Warum nicht! Kann man ohne phantasmatische Stütze wahrnehmen? Natürlich nicht! …
Eine Politik der Geister und eine Politik der Körper sind bloß zwei Seiten derselben Münze. Die entscheidende Erweiterung liegt in den leidenschaftlichen (und zu Weilen obsessiven) Besetzungen von Fleisch – Textilie – Stoff (Schnitt – Naht – Oberfläche). Diese Verhältnisse kann man nicht auf die Schnelle einsacken, bei einer Semiotik der Mode innehalten oder begeistert im Funduskämmerchen der Kostümkunde stöbern. Vielmehr tastet man sich mehr oder weniger behutsam entlang von Säumen, Falten, Schlitzen vor. Keine Auseinandersetzung pandrogyner Körper kann solitär bleiben; sie ist immer eine Auseinandersetzung mit dem Anderen und anderen. Pandrogyn und Stoff sind Objekt und Subjekt ihres Genießens. Alles andere wäre ohnehin untragbar – oder unerträglich. Nicht von ungefähr gibt es bei den Weberinnen der Navahos den Brauch, keine Textilie gänzlich fertig zu weben oder mit einem umfassenden Saum zu versehen, sondern irgendwo im Gewebe eine Lücke offen zu halten.
Bei all dem hebt natürlich auch der Gott Pan – zum Abschluss soll dies noch einmal deutlich betont werden – sein Haupt. Der große Gott der Felder und Weiden, der vielleicht gar nicht so tot ist, wie es der Mythos beklagt. Auch seine Erscheinung ist eine pandrogyne und gekennzeichnet von einer faunischen Sinnlichkeit, die sich aber auch mit einer tiefen Fremdheit und Kälte gegen über allem, was ihn umgibt, paart. Sein Wesen ist durchaus auch eines des Sich-nicht-Verbindens. Seine Ek-stase ein Abgang von der Idolatrie des Menschengeschlechts. Damit beweist sich aber wiederum nur aufs Neue, dass das Gewirk von Schuss und Kette eine ebenso gegenstrebige Fügung ist, wie das Spiel von Bogen und Leier.
Ob die überschwängliche Begrüßung des Pandrogynen als „open source myth of creation“ (Breyer P-Orridge) gerechtfertigt ist, bleibt abzuwarten. Das Signum des pandrogynen Mythos wird jedoch gewiss S/He is Her/E lauten.
Andreas L. Hofbauer for Mein heimliches Auge XXII (2007/2008) Konkursbuch Verlag Tübingen

Volapük // Berlin 2006

Alexander Christou (music and own texts) together with Andreas L. Hofbauer (reading Herman Melville and own stuff) for the Opening of Volapük Bookshop in Berlin 2006.

