Ferris wheel / Fairies of time

When, lo! as they reached the mountain-side,
A wondrous portal opened wide,
As if a cavern was suddenly hollowed;
And the Piper advanced and the children followed,
And when all were in to the very last,
The door in the mountain-side shut fast.
Did I say, all? No! One was lame,
And could not dance the whole of the way;
And in after years, if you would blame
His sadness, he was used to say, —
“It’s dull in our town since my playmates left!
I can’t forget that I’m bereft
Of all the pleasant sights they see,
Which the Piper also promised me;
For he led us, he said, to a joyous land,
Joining the town and just at hand,
Where waters gushed and fruit-trees grew,
And flowers put forth a fairer hue,
And everything was strange and new

and everything was strange and new

Draußen, in der Sturmnacht, dreht sich das Lichterrad …
Dieses Rad, das auf die Form des Buches selbst hinweist, kann auch, auf eine selbstverständlich kinematographische Weise, als das Rad der Zeit betrachtet werden, das sich rückwärts zu drehen beginnt … (Malcolm Lowry, Vorwort zu Unter dem Vulkan)

Sighs from the Dephts

„Sesam öffne dich“, nochmals sei’s gesagt, und zeig uns eine dritte Generation. Lass uns eine Wiese sehen, auf der Inseln von Buschwerk treiben. Wie makellos scheint diese grüne Kraft – wie reich die knospenden Gebüsche, die gleich Wällen die Möglichkeit des Eindringens verhindern, während sie zugleich durch ihre Anordnung und Verteilung etwas abschatten, was man Rasensalons und Foyers zu nennen geneigt sein darf – waldige Galerien und Kabinette. Manche dieser Schlupfwinkel tun sich einem plötzlich auf, als ob eine Schlange vorbei glitte, unerwartet, gleich einem verschwiegenen Alkoven. Wasserklausen und Krypten an den Gestaden eines Waldsees, entstanden aus den Kaprizen und dem Hin und Her der üppigen Büsche. Manche von ihnen sind so klein und so verschwiegen, dass man meinen könnte, sie seien Boudoirs. Hier ist eines, das in einem weniger unbeständigen Klima, ein wunderbares Atelier für einen Dichter böte, wo er Nachts aus seinem einsamen Herzen die Seufzer irgendeiner leidenschaftlichen Erinnerung hervorpressen möchte! An einer Ecke dieses Laubenstudios öffnet sich ein kleiner enger Gang, welcher, nachdem er beinahe verspielt labyrinthisch zu seinem Ausgangspunkt zurückgeführt hat, sich schließlich zu einer ringförmigen Kammer erweitert. Aus dieser heraus gibt es keinen Ausweg (es sei denn auf dem Wege, den man gekommen war), weder einen verstohlenen noch einen großartigen. Dies wäre nun ein reizendes Schlafgemach für den Dichter; dort könnte er den ganzen Sommer über ruhen und Nächte lang die flammenden Heerscharen über den Himmel ziehen sehen. Wie still wär’ es da im Sommer zur Mitternacht, so still wie in einem Grabe.

(Thomas de Quincey, Suspiria de Profundis)

“L’homme y passe à travers des forêts de symboles” (Charles Baudelaire)

A passage out of Suspiria de Profundis by Thomas de Quincey translated by Andreas L. Hofbauer into German.

Über Zeugen und Zucht aka horse, missing (Text)

Ich_und-Bär

Frage :
Also ich gestehe ganz offen, dass mir die Parallelisierungen und Verschiebungen, die Sie hier vorbringen immer rätselhafter werden. Trotzdem: Was hat es denn nun mit diesen Pferden auf sich, die Sie uns hier beständig vor Augen führen?

Andreas L. Hofbauer :
Ja nun – die Pferde. Soviel gäbe es dazu zu sagen, wozu ich aber keine Zeit finden werde. Pferde sind ja Tiere die das Weite suchen. Keine Höhlenbewohner. Deshalb drängten sie sich mir auch auf in diesem Zusammenhang auf oder ich ließ mich auch von ihnen mitreißen. Zähmung, Domestizierung und Zucht – an sich schon erstaunliche und bemerkenswerte Gebiete – ließen sich hier ausmessen. Wie ein roter Faden zieht sich vor allem durch die totalitär-ideologische Kunst das Bild des gebändigten Pferdes. Selbst noch das “springende Pferd” Thoraks hat noch etwas von gewaltsamer Zähmung und Zügelung an sich. Dioskuren führen allüberall die Rosse, zwingen sie in Façon.
Doch ich will mich gar nicht darüber verbreitern. Und ich kann mich hier auch nicht auf die schrecklichen weißen Pferde aus den Alpträumen von Kubins Anderer Seite einlassen, welche die Nachtseite der Domestikation sind oder auf die Pferde aus John Hustons Film Misfits, in denen sich eine blonde Marylin Monroe am Ende selber erkennt. Es mag das Bild Johann Heinrich Füsslis in diesem Zusammenhang genügen, welches Sie hier sehen können. Eine Kopie desselben Bildes hing schließlich auch im Behandlungszimmer Sigmund Freuds in der Berggasse. Was vom Vergleich, das Ich verhalte sich zum Es, wie der Reiter zum Pferd zu halten sei, überlasse ich Ihnen. Was es hier also zu bändigen gab und worüber man sich dabei hysterisch täuschte, welche Rosstäuscherei also in der Tat im Gange war, kann nur an anderer Stelle ausgeführt werden.


Andreas L. Hofbauer (2009) about some manoeuvres of Josef Thorak, lecture-performance in Munich 2009 for the stage productionIk spek Menkenspak

Siegelbaums Auge

Benjamin „Bugsy“ Siegel wurde 1905 in New York geboren. „Bugsy“ (Wanze, Bazille) spielte auf seine Wutanfälle an, seine psychopathische Ader. Im übrigen hasste er es natürlich, wenn ihn jemand Bugsy nannte. Er bevorzugte die Anrede „Mr. Siegel“ oder „Ben“.

Exzentriker. Ließ sich einmal nackt in der Öffentlichkeit rasieren. Faible für feine Anzüge, das gute Leben und schöne Frauen.

1946 zieht er nach Las Vegas und eröffnet da mit erheblichem (finanziellem) Aufwand das Flamingo Hotel mit angeschlossenem Kasino. Die Eröffnung wird zum Disaster (Springbrunnen fällt aus, elektrische Anlagen funktionieren nicht, Prominente bleiben fern etc.) Zur zweiten Eröffnung ist bei den Geldgebern schon der Verdacht aufgekommen, dass Siegel vielleicht Geld zur Seite geschafft hat. Am 20. Juni 1947 wird Bugsy im Haus von Virginia Hill erschossen. 7 Schüsse, zur Unkenntlichkeit entstellt, ein Auge wird herausgerissen und kollert über den Teppich.

Sein Motto „Leb’ schnell, stirb jung und gib’ eine schöne Leiche ab“ wurde ihm – mit Ausnahme des letzten Punktes – demnach erfüllt.

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Villa dei Misteri (freeze frame)

death

… Einst erzählte man sich, dass die Bilder nicht allein Realität zeigen, sondern diese formen. Dass das Sehen eine Wahrnehmungsdimension unseres Daseins wäre; ja dass das Bild uns zuweilen wirklicher schiene, als all der angeblich begreifliche und unvermittelte Umgang mit irgendwelchem Material …

… Wo die Kamera den Tod bei der Arbeit filmte (Cocteau), da zerlegt nun der Pixel-Rechner seriell das vorgebliche Leben. Die Sehmaschine ist integraler Bestandteil eines Zielsuchkopfs, der in zerstörerischer Absicht das Terrain sondiert. Mit kalter Gier gleitet er über die Kopfgeburten, die mit eisernen Geburtszangen dem Schicksal des Über-Lebens ausgesetzt werden. Sein Traum ist das Greuel in seiner orgiastischen Pracht. In einer Art psychischem Wundstarrkrampf windet sich auch in diesem Kopf noch eine Erinnerung, die nichts mehr zu erinnern vermag; dennoch auch nicht vergessen kann. Er lagert immer wieder Bilder aus, um sie erneut abzusuchen. Eingebettet ist dieser sich längst überlebt habende Sucher in seine schreckliche und lächerliche Inversion: es werden bloß Fiktionen gewesen sein, die die Illusionen von den Tatsachen hervorbrachten. Jeder Zielsuchkopf ist im Visier eines anderen Zielsuchkopfs.

… Dieses Theater war einmal ein Freudenhaus …

… Dieser Film wird kein Leben retten …

… Where are we? Well, I don’t know exactly …

… To be continued …

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Andreas L. Hofbauer for Ivan Stanevs Villa dei Misteri

Zwei Novembernächte

OFF-STIMME
Do I hear 21 21 21 ? … I give ya 21 21 21 …

FRANZ SCHUBERT
Die Zeit vergeht dem Pfeile nach. Nichts ist reversibel. Alles fügt sich lückenlos zwischen Trieb, Natur und Geschichte. Dieser andere Lebenskreis, ist er das Glück der Ferne? – Aber ich träume ihn doch nur, um mehr denn je zu erschrecken. Ich will nicht Aufwachen, das Erwachen ist der Tod, den ich wenigst’ einmal täglich zu sterben habe.

REV. JIM JONES
Jede Nacht die ich nicht schlafen kann ist White Night. Und zwar für alle. Man muss das einfach inszenieren. Damit verstanden wird, was da vorgeht. Ehe sie dann im wirklichen Leben gelyncht werden. Man muss sich vorbereiten.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Das ist kein Psychodrama hier, verdammt noch mal!

OWEN CHASE
Ein gutes Schiff, ihre Novara. Vortrefflich! Sie brachte sie sicher von Miramar nach Miravalle. Landungsbrücke Endstation. Und dann wieder zurück mit der Leiche. Tegetthoff höchstpersönlich hat sie heimgebracht, mein lieber Max. Imposanter als unsere Essex allemal. Zuvor aber hat dies wunderbare Schiff schon das Blatt des Cocastrauchs nach Europa gebracht, wo es seiner chemischen Nutzbarmachung harrte.

FRANZ SCHUBERT
Die Novaragasse kenne ich. Führt sie nicht geradewegs zum schönen Praterstern in Wien? Meinem so heiß geliebten Wien? Aber auch eine übel beleumundete Gegend. Aber – weit bessere Bordelle als dasjenige, in dem wir uns hier gerade aufhalten. Kontinentaler.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Ohne mich kein Lissa! Wie wahr …

FRANZ SCHUBERT
Dieses Kranksein. Ich fühle mich beständig krank.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Ach was: Gesundheit ist das Schweigen der Organe. In ihnen schreit es einfach vor sich hin.

FRANZ SCHUBERT
Der Mensch gleicht einem Balle, mit dem Zufall und Leidenschaft spielen.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Als ich zum ersten Mal in der Kathedrale von Granada die Kroninsignien der Reyes Católicos Ferdinand und Isabella sah, da wusste ich sofort um meinen hispanischen Auftrag. Bei Gott, wie sehr wollte ich den schweren Särgen gerecht werden, die sogar noch von Jesus getragen werden müssen. Ferne ist gar nicht fern. Wir sehen sie ganz nah. Wie eine Kugel im Hirn. Kat-holos.

(…)

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Ich bin so melancholisch, tiefsinnig und fühle mich verlassen, dass ich weinen möchte wie ein kleines Kind.

REV. JIM JONES
Die Tiere habe ich immer geliebt. Schon als Kind habe ich sie auch eingesegnet. Ich habe an den Gräbern der kleinen Kätzchen und Hündchen, der kleinen Sittiche und Buchfinken gebetet. Manchmal, wenn es nichts einzusargen gab, musst ich freilich nachhelfen. Aber es geht eben nichts über ein schönes Leichenbegängnis.

OFF-STIMME
Anstatt bei meiner Geburt wenigstens vor dem Kreissaal zu warten um mein erstes Schreien willkommen zu heißen, haben sich mein Vater und mein Großvater – Fluch über die unerbittliche Kette der Generationen – dabei vergnügt, den Haushund unter die Erde zu bringen im heimatlichen Anwesen, in der Heimaterde. Aber auch, wenn du weißt, wo der Hund begraben liegt, wird dich dies Wissen niemals erlösen.

OWEN CHASE
Ich hasse die Emergenz des Wals. Er ist das Sinnbild einer Wand, das sich inmitten der Gesellschaft der Freunde aufgerichtet hat. Kill the whales, break through the walls.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Freunde! Wir sind nicht allein. Ich kann zumindest eure Schatten sehen in diesem Reich erleuchteter und erlauchter Nacht. Freunde!

REV. JIM JONES
Scheiß Quäker! Hirnlose gierige bigotte Schweine. New England White Trash! Diese religiösen Gesellschafter der Freunde. Ein Haufen nach Walfett stinkender Bibelfester.

FRANZ SCHUBERT
Was das Schicksal so geschrieben haben wird, dem kann nicht ausgewichen werden. Jeder, der dem unvermeidlichen Ziel entgehen will, steht endlich umso gewisser an der Wand, die jenes für ihn errichtete. Atemlos und voll blinder Hoffnung irren wir angesichts dieser Horizontlinie durch die weltgewordenen Albträume. Ein Schatten löst sich aus der Ferne und eilt auf uns zu. Wir erwarten ihn mit offenen Armen. Sehnsucht nach dem Abschluss der Einsamkeit.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
Als ich in Querétaro an meiner letzten Wand anlangte, war ich nicht allein. Wie Christus hatte ich zwei Freunde an meiner Seite.

(Es erklingt wieder das Lied La Paloma. FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH singt ein wenig mit. Wenn er das Wort „Ferne“ erreicht, singt er aus voller Brust.)

(…)

OWEN CHASE
(steht auf, bestimmt)
Manchmal kann ich die Löcher sehen, die mich umgeben. Hineingefräst in eine Welt, als wären sie Tunnels, die vielleicht in andere Universen führen. Hineingefressen in die fleischliche Welt. Aus diesen Löchern weht ein kalter Wind. Er schmerzt in meinem Auge, wenn ich einen Blick hineinwerfe. Doch dieser Schmerz bestätigt nur unser Wissen, dass da gar keine anderen Universen vorhanden sind, sondern nur dieses eine, zerschossen von Schächten der Verzweiflung, von Kavernen, die durch die Mauern unserer Erstarrung kriechen, um sich gespenstisch zu schließen, solide werden, sobald man ihrer einmal gewahr wird. Kein Sesam öffnet sich, um uns hinaus zu lassen. Wer einmal so einen Tunnel betritt, findet sich unweigerlich vor dem zuzementierten Aus- oder Eingang wieder. Manchmal nimmt man diese Löcher auch an sich selber wahr. Sie öffnen das Fleisch nicht in Form einer Wunde oder einer Stigmatisierung, sondern sind unscharf begrenzte Zonen im Fleisch, so wie ein flimmerndes Fernsehbild und nicht der aufgerissene Fleischkörper.

REV. JIM JONES
Wir schreiben Löcher in die Welt. Ja, wir sind sogar diese in die Welt geschriebenen Löcher. Nicht dazu da, mit den Träumen der anderen gefüllt zu werden, Fluchtorte für ihre Phantasien zu sein, Bergungsstätten – nein: nichts weiter als bloße unfruchtbare leere Löcher.

OWEN CHASE
Der Traum eines jeden großen Regisseurs, nicht wahr?

FRANZ SCHUBERT
Es ist, glaube ich, Zeit zu gehen.

FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH VON ÖSTERREICH
So ist es.

OWEN CHASE
Ja. Gehen wir. Wie oben, so unten!

REV. JIM JONES
Na, dann woll’n wir mal …

(Sie verharren regungslos.)

OFF-STIMME
(verzerrt, mechanisch)
Do I hear 21 21 21 ? … I give ya 21 21 21 …

OWEN CHASE
Wir sind da.

(AUS)

Excerpt of Andreas L. Hofbauers stage play Zwei Novembernächte

Zwei Novembernächte (expositorisch)

In zwei Nächten – nämlich der vom 18. auf den 19. und von diesem wiederum auf den 20. November 20XX – treffen folgende Personen / Masken aufeinander.

FRANZ SCHUBERT (gest. am 19. November 1828), OWEN CHASE (1. Maat und Überlebender des Walfängers Essex, der am 20. November 1820 von einem angreifenden Wal versenkt wurde und dessen Aufzeichnungen später Herman Melville zu seinem Roman Moby Dick inspirierten), Rev. JIM JONES (der am 18. November 1978 über den größten Massenselbstmord der Geschichte, nämlich den seiner Sekte The Peoples Temple in Guyana präsidiert) und FERDINAND MAXIMILIAN JOSEPH von ÖSTERREICH (späterer Kaiser von Mexiko, am 19. Juni 1867 hingerichtet). Durchschossen wird dieses Treffen durch eine OFF-STIMME, die auch ein wenig den Autor (geb. am 19. November 1967) vertritt.

1. Nacht: Vorzimmer eines Bordells. Man wartet auf die Damen. Einrichtung beliebig.

2. Nacht: Vorhölle. Man wartet auf Luzifer. Es bleibt dunkel, bis auf den Glanz der Neonlichter.

Die Sprache: gespenstisch-spektral. Das erpresserische Diktat der Kommunikation ist ausgesetzt, die Gabe der Mitteilung aber unerreicht. Erzwungene Verworfenheit, psychotische Rede und Widerrede. Angestrebt ist keine Ausbeutung etwaiger Zahlenmystik, sondern die rissigen Psychogramme sind Belichtungen aus der Dunkelkammer der Träume, in denen sich Zufall und Notwendigkeit verschränkt haben werden.

Short synopsis for the stage play 2 Novembernächte by Andreas L. Hofbauer

7 – Anmerkungen zur Arbeit eines öffentlichen Träumers

Das Ordnungsprinzip dürfen nicht sieben Kapitel sein, sondern sieben mal sieben, … [d]aß [sic] heißt, ein Kapitel sind sieben Personen, das andere Kapitel sind sieben Handlungsorte des Brunke, das andere sind sieben Orte des Notierens von mir, das nächste sind möglicherweise sieben Formen, dann sind es sieben Türen, dann sind es sieben verschiedene Bilder, die sich die Leute von ihm gemacht haben, in den Akten oder Aussagen oder von den Handlungen.
(Thomas Brasch, [Brunke-Konvolut, S. 401])


Das Ordnungsprinzip dürfen nicht sieben Stichpunkte sein, sondern sieben mal sieben, das heißt, so viele Stichpunkte so viele Masken, das andere sind sieben Handlungsorte der Verzeichnung, das andere sind sieben Orte des Notierens von mir, das nächste sind möglicherweise sieben Maschinen oder Häuser, dann sind es sieben Türen, dann sind es sieben verschiedene Bilder, die sich die Leute von ihren Verlustierungen machen und gemacht haben, in ihren Akten oder beiläufigen Aussagen oder von den daraus resultierenden Handlungen.

(Andreas L. Hofbauer [7. Anmerkung zur Arbeit eines öffentlichen Träumers, also: HIER])

49. Eine Tür, an die Wand gemalt.

48. „Jericho aber war verschlossen und verwahrt vor den Kindern Israel, so daß niemand heraus- oder hineinkommen konnte. Aber der HERR sprach zu Josua: Sieh, ich habe Jericho samt seinem König und seinen Kriegsleuten in deine Hand gegeben. Laß alle Kriegsmänner rings um die Stadt herumgehen einmal, und tu so sechs Tage lang. Und laß sieben Priester sieben Posaunen tragen vor der Lade her, und am siebenten Tag zieht siebenmal um die Stadt, und laß die Priester die Posaunen blasen. Und wenn man die Posaune bläst und es lange tönt, so soll das ganze Kriegsvolk ein großes Kriegsgeschrei erheben, wenn ihr den Schall der Posaune hört. Dann wird die Stadtmauer einfallen, und das Kriegsvolk soll hinaufsteigen …“ (Jos. 6; 1-6)

47. Ich

46. Im Schoß des in einem selbst errichteten und später so genannten Erektions- oder Exekutionsstuhl aufgefunden Leichnams des Architekten D. H. aus dem Westteil der Stadt Berlin findet sich ein 2000 Seiten Konvolut, dessen letzte Seite – die von rechts oben nach links unten ausgestrichen ist – die Anweisung gibt, von einem Schriftsteller restauriert zu werden, der eine Pause benötige beim Herstellen künstlicher Charaktere und sich dergestalt einen neuen Beruf zu verschaffen vermöchte, und zwar eben den eines Restaurators. Dieser Schriftsteller kann hernach das so Herausgestellte unter eigenem Namen veröffentlichen, jedoch nicht in das Gefängnis eines Buch-Hauses hinein – und somit in das ebensolche Gefängnis eines notwendig dazu gehörenden Verlags-Hauses – sperren, sondern selbiges nur etwa an Zeitungskiosken oder in Einkaufspassagen zu Entbindung bringen.

45. Künstliche Charaktere, Käufliche Personen; die Liebe und ihr Gegenteil.

44. Du

43. Eine seltsame zölibatäre Maschine, ein bemerkenswerter Beeinflussungsapparat. So ganz ohne Drähte und Knöpfe einer analogen Maschinerie. Gibt es eine Klinik für dieses Symptom?

42. Die Identifikation in der Mechanik der Objektwahl geht der eigentlichen Objektsetzung, also der Objektwahl durch Projektion voraus. „Nicht die Geschichte von Brunke ist die Geschichte, die erzählt werden muß, sondern die Geschichte von einem, der sich in die Bruhnke-[sic]Geschichte verbeißt, weil er etwas anderes verschweigen will“, schreibt Thomas Brasch. Und es stellt sich dabei nicht einmal die Frage: Aber was?

41. Er

40. Thomas Brasch und sein Konvolut über Brunke sind die Restauration des Konvoluts des Architekten D. H. über Brunke, das seinerseits wiederum wohl als die Restauration Brunkes als Konvolut angesehen werden muss. (Denn Karl Brunke verfügt nur über den nie geschriebenen Text mit dem Titel „Die Liebe und ihr Gegenteil“)

39. Eine Drehtür

38. „Und beim siebenten Mal, als die Priester die Posaunen bliesen, sprach Josua zum Volk: Macht ein Kriegsgeschrei! Denn der HERR hat euch die Stadt gegeben. Aber diese Stadt, und alles was darin ist, soll dem Bann des HERRN verfallen sein. Nur die Hure Rahab soll am Leben bleiben und alle, die mit ihr im Hause sind; denn sie hat die Boten verborgen, die wir aussandten. Allein hütet euch vor dem Gebannten und laßt euch nicht gelüsten, etwas von dem Gebannten zu nehmen und das Lager Israels in Bann und Unglück zu bringen. Aber alles Silber und Gold samt dem kupfernen und eisernen Gerät soll dem HERRN geheiligt sein, daß es zum Schatz des HERRN komme.“ (Jos. 6; 16-20)

37. Sie

36. Cotheniusstraße 1

35. Diverse Verbindlichkeiten eines Mannequins

34. Kein Traum rechnet; weder richtig noch falsch. Er fügt nur mitleidlos Zahlen zusammen. Bringt sie in Form nichtkalkulierbarer Notwendigkeit.

33. Abkühlen des Textes auf Protokolltemperatur!

32. Eine der ägyptischen Hieroglyphen der Zahl 7, die vor allem in späterer Zeit häufige Anwendung fand ist, ein nach links gewendeter Kopf, was nicht zuletzt mit der Zahl der Öffnungen in selbigem zusammenhängt.

31. Kopfgeburt

30. Es

29. Schädelnaht

28. Landsberger Allee / Ecke Petersburger Straße

27. Schädelhaus des Kopfes, eingepfercht zwischen Gesicht und Gericht.

26. Alles Blumige muss durch eine Art Analyse ersetzt werden.

25. 25. April 2004, Restaurant Cantamaggio, Berlin-Mitte, abends.

24. Eine Tapetentür

23. Lust + Verlust = Verlustierung

22. Wir

21. „Wenn Liebe Verwahrung heißt, also verwahrt oder bewahrt zu sein, dann müsse das Gegenteil ja Verwahrlosung sein.“ (Thomas Brasch)

20. Wie sollte denn ein Staat an einer „Liebesmaschine interessiert sein, die wie Einsteins Relativitätstheorie Zeit und Raum vom Kopf auf die Füße stellt und wie Freuds Entdeckung von Traum und Trieb das Leben im Bett vom Bauch auf den Rücken dreht und beide Glücksfälle zusammenführt, die den Menschen das Vorhandensein eines anderen Menschen und alle damit verbundenen Tode überflüssig macht, die sprechen und singen und umarmen und streicheln und verzeihen und küssen kann und ihren Besitzer erniedrigen und von ihm erniedrigt werden will, die an seine oder ihre Freunde ausgeliehen und dabei beobachtet werden darf, die in eine Haut gekleidet ist wie jene Haut, die du in meinem Kopf in dein Kistchen verwahrt hast …“?

19. Spielmannstraße 1

18. „Am 17. Oktober kaufen wir den Revolver.“

17. Eine Maschine, wie jene, die das Fräulein Natalija A., 31 Jahre, ehemals Studentin der Philosophie, nun stocktaub und sich ausschließlich schriftlich verständigend, entdeckte. Irgendwann um 1919 und dem Dr. Tausk vielleicht in Wien davon erzählte. Seit sechs Jahren steht sie unter dem Einfluss dieser Maschine, die verbotener Weise in Berlin erzeugt wurde und betrieben wird. Ein kopfloser Rumpf in der Form eines Sargdeckels, mit allen Gliedmaßen, nur nicht mit den so genannten Geschlechtsorganen – diese seien entfernt worden. Jede Manipulation an der Maschine ist eine Manipulation an ihrem Körper. Jeder Schmerz der Maschine ist der ihre. Wie das Gefühl des Geschlechts fehlt, fehlt auch der Kopf, oder ist wenigst für sie nicht sichtbar.

16. Ein Fragezeichen, wie es in der spanischen Sprache üblich ist.

15. Unbedingte Beziehungen sind nicht möglich!

14. Der Architekt D. H. entschloss sich, nachdem er herausfand, dass die Sieben die magische Zahl Brunkes sei, unter vollständigem Verzicht auf Nahrung und Schlaf in sieben Tagen die sieben Lebenskapitel des Brunke zu Papier zu bringen und dergestalt sich so vollständig auszudenken, auf dass Platz für Brunke in seinem Schädelhaus entstehe. Sollte dies nicht gelingen, bemesse er sich derart wenig Gewicht bei, dass ein Bindfaden auszureichen hat, um aus dem Ausrufezeichen das Brunke war ein Fragezeichen, das er in diesem Falle für immer bleiben müsste, zu machen, das sich in den Tod krümme.

13. „Rahab aber, die Hure, samt dem Hause ihres Vaters und alles was sie hatte, ließ Josua leben, weil sie die Boten verborgen hatte, die Josua gesandt hatte, um Jericho auszukundschaften. Zu dieser Zeit ließ Josua schwören: Verflucht vor dem HERRN sei der Mann, der sich aufmacht und diese Stadt Jericho wieder aufbaut! Wenn er ihren Grund legt, das koste ihn seinen erstgeborenen Sohn, und wenn er ihre Tore setzt, das koste ihn seinen jüngsten Sohn!“ (Jos.; 25f.)

12. „[S]o erscheint die Himmelswölbung mir beinahe als das Inn’re eines ungeheuren Schädels und wir als seine Grillen! – Ich bin eine, die er, wie sehr ich auch mich sträube, im Begriff ist zu vergessen!“ sagt der Marius bei Grabbe.

11. Ihr

10. Monumentenstraße 1

9. Die Ägypter unterteilten die Elle in 7 Handbreit um zur königlichen Elle zu gelangen. Dies führte zu einer subtilen Verbindung zum Gott der Schreiber, Thot, dessen schriftliche Fixierung für die ewige Gültigkeit von Ereignissen bürgt. (Gleich der Anwendung der königlichen Elle in der Architektur). Um seine protokollierenden Handlugen magisch zu fixieren, besteht sein Schreibutensil aus den sieben Binsen. Die Idealzahl der Schreibutensilien einer Palette ist folglich ebenso die sieben; – Thot, der im Jenseitsgericht protokolliert, dort, wo die Verstorbenen wieder belebt werden.

8. Die Heilige Familie unter ein Dach zu bringen war Karl Brunkes anfänglicher Plan. Oder etwa doch der seiner Mutter, aus deren Fuge er kroch? Architekt D. H. in Berlin hat diesen Plan aufgegeben, da er ein anderes Geheimnis hinter dem Tun Brunkes entdeckt zu haben glaubte. Der Verweis auf diese seltsame und doch so brauchbare Öffnung im Schädel – „jene sich kurze Zeit nicht schließende Fuge im Kopf des Säuglings (von der Natur klug eingerichtet, um die Fuge der Mutter nicht zu verletzen, den Kopf also verschiebbar zu machen, auf daß er nicht in Mitleidenschaft gezogen wird durch den engen Geburtskanal, durch den er zurück will ein Leben lang)“ – alles nur eine raffinierte Idee Brunkes eine achte Öffnung einzumahnen, die ihm einerseits zur Stelle eines nützlichen Arbeitsplatzes verhilft, ihm aber zum anderen später bei Gericht zum Nachteil oder Einwand gereichen wird.

7. Doch kaum Platz genommen auf dem Stuhl der zölibatären Maschine nimmt der Abgang vom Uterus terrae matris seinen Lauf.

6. Jedem Auftritt ist der uranfängliche Abtritt beigegeben.

5. Das Glück eines dritten Geschlechts, das sich ausbildet hinter den Fraternisierungen von Bank und Bordell.

4. Sie

3. Der Poet als Architekt, der Architekt als Maschinist, die Klammer des Maschinischen, die alle Häuser und Köpfe heimsucht.

2. Die Städte Kanaans waren bloß kleine Verwaltungszentren Ägyptens, in denen lächerlich machtlose Fürsten mit ihren kleinen Stäben lebten. Jericho verfügte über keinerlei Befestigungsanlagen. Es ist sogar möglich, dass die Israeliten unter dem historischen König Josiah bloß Ruinen zwischen verstreuten Hirtensiedlungen vorfanden. Darüber, wie es den Huren oder käuflichen Personen im Allgemeinen oder Speziellen dort erging, ist so gut wie nichts bekannt.

1. Das Haus für Brunke wird nicht fertig.

0. Eine Tür, in einer Mauer, die es nie gab. – Und an dieser Schwelle vor einer neuen ungeahnten Tür und einem neuen ungeahnten Grund vielleicht, wandelt sich die Wand zum Gewand, schält sich der TraumBrunke („Das Blanke Wesen“) mit einer verrosteten Nagelschere die Haut vom Leibe und legt sie erstmals nicht mehr fein säuberlich zusammengefaltet in ein Kistchen oder in sonstige Lade, sondern wirft sich das Kleid über die Schulter und … läuft … los …

Andreas L. Hofbauer for Juliettes Literatursalon and the Jewish Museum of Berlin. This text was red / dreamt by the author himself for the first time in public on April 25, 2004, at Cantamaggio (Berlin). It refers to Thomas Brasch small book “Mädchenmörder Brunke” and the several thousand pages of the so called “Brunke-Konvolut/Die Liebe und ihr Gegenteil” by the same author. Brasch, Brunke, east, west, Jewish, German, murderer, bank teller, piano teacher, Kabbala, bachelor-machine – a wondrous textlandscape.

but … Billy Budd

Von welchem Schlag ist also Billy Budd, aus welcher Art und welchem Geschlecht ist er geschlagen, zu welchem geschlagenen Geschlecht mag er gehören? Sind es gerade die vorgeblich Unschuldigen, die sich schuldig machen oder verzeiht man ihnen ihr Vergessen nicht? Ist Schuld überhaupt nur Oberflächenphänomen, welches, gleich der weißen Wand des Wals, aus den Tiefen auftaucht und wir wollen (im Sog Ahabs) es durchbrechen? Spricht man aber überhaupt von unschuldig schuldig gewordenen, wenn man im Namen Billy Budds spricht – und was hieße das überhaupt? Wir, von der Rasse Kains, sind immerhin gezwungen, in ein Land aufzubrechen das Nod heisst, ins Land der Ruhelosigkeit und Flüchtigkeit (wie das hebräische nad bedeutet). Wegzugehen aus dem Angesicht des Vater-Gottes, ausgezeichnet zu überleben. Der Konflikt eines Nebeneinanders (der Brüder und des Geschlechts) hat sich so in die Zeit gespannt und ist Konflikt entlang der Zeitachse geworden. Nicht allein ob man des Bruders Hüter sein soll, des Hirten Hirt, steht in Frage, sondern ob man für die Kommenden zeugen kann. Dies ist vielleicht weniger eine Frage der Filiation und deren Politik, vielleicht weniger Frage der Einsetzung, sondern der Freisetzung, der Garantie einer rückhaltlosen Entbindung, die es vermag eine Kohärenz von Körpern zu wahren, ohne dabei das Unendliche fahren lassen zu müssen. Eine Vertäuung der über-lebenden Immanenz. Das heißt jedoch, das elende Bedürfnis nach Schaffung und Schöpfung aufzugeben, das wir sogar Gott andichten, vielleicht bloß, um uns selbst zu Göttersöhnen (und -töchtern) zu machen. Die Unfähigkeit sich eine andere Hand vorzustellen, als die, die bei Tisch (womöglich gar aus Liebe) Brotmännchen formt, die andere Hände schüttelt, um sich des eigenen Seins zu versichern, die, sichtbar oder unsichtbar, immer vermittelt und herstellt, der Welt Gestalt gibt. „Ich nehme mit einem geringern Vater vorlieb; wenigstens werd ich ihm nicht nachsagen können, dass er mich unter seinem Stande in Schweineställen oder auf den Galeeren habe erziehen lassen“, sagt in Georg Büchners Dantons Tod die Figur des als Spinozisten und Atheisten charakterisierten Thomas Payne. (1) Die Erschöpfung und das Aufhören, das Enden, verschreibt sich einer Insistenz, die sich weder auf ein Transzendentes stimmt, noch dabei aber den schmerzhaften Aufbruch verleugnet. So bewegt sie sich, zuweilen starr, ohne sich im geringsten zu rühren, weg. Solch aufbrechendes Gehen bricht auch immer zu einem verlorengegangenen Kind auf. Es entdeckt nicht (sich als) das verlorengegangene Kind (sei es der Sohn oder die Tochter), nicht einmal das Verlorengegangene – sondern es geht verloren. Abgegangen wird hier vom Wollen oder Willen des Wissen, wie auch vom Nichtwissen. (2) Inauguration einer Bahnung des Vergessens. If you are ready to leave father and mother, and brother and sister, and wife and child and friends, and never see them again, – . . . then you are ready for a walk, schreibt Thoreau. Man kann dies in eine Entgegnung verwandeln, deren Ton unentscheidbar zwischen Frage und Forderung oszilliert – are you ready for a walk . . .
Merkwürdig mutet in diesem Zusammenhang ein Brief an, den Herman Melville seiner Tochter Bessie vom Pazifischen Ozean aus am 2. September 1860 zukommen lässt. „Diese Vögel [hier] haben kein Zuhause, außer einigen wüsten Felsen mitten im Ozean. Sie sehen niemals einen Obstgarten, und kennen den Geschmack von Äpfeln & Kirschen nicht, wie dein fröhlicher kleiner Freund in Pittsfield, Herr Robin Rotkehlchen. – Ich könnte dir noch vielmehr Dinge über die See erzählen, aber ich muss den Rest verschieben, bis ich nach Hause komme. . . . Ich nehme an, du hast recht viele Spaziergänge auf den Hügel gemacht, und die Erdbeeren gepflückt. Ich hoffe, dass du gut auf Klein Fanny aufpasst, und daß du, wenn du auf den Hügel gehst, so gehst: [hier folgt eine kleine Zeichnung Melvilles, die einen Baum und etwas Gesträuch zeigt, sowie zwei beinahe winzige Gestalten, die sich an den Händen halten] das heißt Hand in Hand. Leb wohl, Papa“. (3) So, als ob es doch möglich sei, die Faust in die flache Hand zu entfalten, wie Johann Georg Hamann dies gefordert hat, und sich die Hände zu reichen. So, als ob es vielleicht dem Aufbruch des Vergessens nach nichts mehr verlangte, als eben nach dieser einfachen, singulären und einfältigen Handreichung, das Wagnis dieser unwahrscheinlichen Berührung, die weder führen noch hüten will.
In welchen Namen also wird man sprechen, wenn man im Namen von Billy Budd zu sprechen wähnt? In welchem Namen spricht man mit der Vorsicht und dem Bedacht, die Spinozas Motto waren und deren Wort er sich in seinen Siegelring eingravieren ließ – caute – und für welche Unabhängigkeit also? (4) Wenn man spricht im Namen von bud, der Knospe oder der jungen austreibenden und -schlagenden Triebe, im Namen der unterentwickelten Wesen; oder im Namen unser aller Brüder; Bruder, wie das umgangssprachliche Amerikanisch bedeutet – aber auch im Namen des Spross, der Töchterchen und Söhnchen? But, Aber . . .

(1) Georg Büchner, Dantons Tod, in: Ders., Werke und Briefe, München 1975, S. 39.
(2) Vgl. dazu Thomas Schestag, Schrittstellen, in: Oswald Egger (Hg.), Rhythmus. Wiener Vorlesungen zur Literatur 1996/97 (Der Prokurist 19/20), Wien/Lana 1998, S. 37.
(3) Zit. nach More Light, And The Gloom Of That Light. More Gloom, And The Light Of That Gloom , in: Die Republik (82-85/1988), S. 191 f.
(4) Vgl. Leo Strauss, Das Testament Spinozas, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 1996, S. 422.

Excerpt out of ” … thus snapping the chain -” (Ablösungsversuche, Wien 2001) by Andreas L. Hofbauer

Drache

Die schlange kriecht oder ringelt sich auf dem boden,
stehen ihr flügel zu gebot, so heißt sie drache.
(Jakob Grimm „Deutsche Mythologie“)


Eine Schlange, die noch keine andere gefressen hat, wird kein Drache. [Serpens, nisi ederit serpentem draco non generetur.]
(Hier zit. nach: Heimito von Doderer „Die Wiederkehr der Drachen“)



Sehr geehrter Herr Pfarrer,
Ich danke Ihnen bestens für die ungemein interessante Darstellung. Es ist eine Art von Ritter St. Georg, bei dem aber der untere Teil ein Drache ist. Eine durchaus ungewöhnliche Darstellung! Es ist, wie wenn darin das Bewußtsein ausgedrückt wäre, daß der Drache die untere Hälfte des Menschen ist, was in Tat und Wahrheit ja auch der Fall ist. Man kann daher dieses Bild gut als eine Darstellung des innern Konflikts auffassen oder auch als das Gegenteil, nämlich als einen Ausdruck der Tatsache, daß Drache und Held eigentlich zusammengehören und eines sind.
Diese Einsicht ließe sich aus der Mythologie schon einigermaßen belegen und hätte sehr weitreichende Folgen, wenn sie vergleichend religionshistorisch untersucht würde. Mit vorzüglicher Hochachtung und bestem Dank,
Ihr ergebener
(Carl Gustav Jung an Pfarrer Jakob Amstutz am 23.I.1948)




Lange schon war der Krieger allein geritten und längst hatte er die Zahl der Tage vergessen die verstrichen waren, seitdem er seinem Volk und der großen Armee den Rücken gekehrt hatte. Das hohe Bergmassiv lag weit zurück als er das Wäldchen erreichte, von dem er wusste, dass hinter ihm die große Steppe begann.

Ein letztes Mal hielt er inne um sich umzuwenden. Mit einem Ruck riss er sich los von dem Bild, dessen er gewahr wurde und trieb seine Pferde weiter vorwärts.

Das Wäldchen war nicht groß, doch immer wieder verlor er die Orientierung. Es schien ihm, als wäre er acht Pfaden gefolgt, die ihn aber immer aufs Neue zur selben Weggabelung zurückführten. An dieser Wegkreuzung hielt er nun erneut inne und sah sich um. Überlegte für eine Weile; sollte er wieder einen der schon berittenen Pfade wählen um zu versuchen den Irrtum seiner Abirrung herauszufinden? Doch er entschied sich anders und wählte den neunten Pfad. Vorwärts brach er durch das Unterholz und zwischen den Bäumen hindurch -, geradewegs, bahnend, vorwärts.

So erreichte er das Gestade eines gewaltigen Sees der ihm auf den ersten Blick noch größer schien denn die Steppe, in der sich dieser ausbreitete.

Aus der hohlen Hand trank er Wasser, kniend, neben seinen Tieren. Sein Blick fiel allein und starr auf das sich im Wasser spiegelnde Antlitz eines ihm Fremden.

All dies geschah in einem Zeitraum von dem wir nicht zu sagen vermögen, wie lange er währte.

Kurz nachdem er sich nahe des Feuers über dem er Tee bereitete hingekauert hatte wurde er am Horizont einer Gruppe Menschen gewahr, die auf ihn zustrebten. Befremdlich schien ihm dies, da sie nicht zu Pferde waren, wie hier jedermann. Befremdlicher noch, da es sich offenbar um eine Art Prozession wichtiger und bedeutender Leute handelte, was er aus den mitgeführten Standarten und der Art wie die Gruppe einher schritt schließen zu müssen glaubte. Still und beinahe reglos erwartete er ihre Ankunft.

Die Gruppe die hernach vor dem Krieger stand umfasste folgende Personen: 1. Der Fürst (als einziger unter einer Art Baldachin, der von vier Sklaven getragen wurde und ihn sogar vor der fahlen Sonne dieser Jahreszeit schützen sollte), 2. seine Gemahlin, die Fürstin 3. einige Kleine Gemahlinnen (der Krieger zählte sie nicht), 4. drei Söhne und eine Tochter, 5. einige Damen (auch sie zählte der Krieger nicht), 6. ein paar Vasallen, 7. die Weisen, 8. drei weitere Weißbärte, 9. einige Träger und 10. ein Grüppchen Soldaten.

Der Fürst schritt unter seinem Baldachin hervor und trat grüßend auf den Krieger zu, der sich erhoben hatte. Nahe trat er an ihn heran, der seinen Kopf nur kurz gesenkt hielt und dem Fürsten dann gerade ins Gesicht blickte. Nach einer Weile sagte der Fürst:

– Das Feuer in Deinen Augen und die Glut Deines Gesichts versichern uns, dass Du einer derjenigen bist, nach denen wir Ausschau halten. Ich bin der Fürst dieser Provinz und treuer Knecht des hochmächtigen Khan, dessen Reich ohne Grenzen ist und welches du sehr wohl kennst. Sein Name sei geheiligt und wer ihm den Respekt versagt soll sterben. Wende Deinen Blick nach Westen und Du wirst meines Ails ansichtig werden. Siehst Du meine prächtige weiße Jurte in der Sonne funkeln? Weit, weit reicht mein Land und meine Herden sind zahllos.

Doch großes Unheil hat sich über uns ausgebreitet. Höre von einem meiner weisen Berater, worin es besteht.

Ein hochbetagter Weißbart trat nun neben den Fürsten. Seine Worte lauteten:
– Krieger! Ein Mogur bedroht die Gegend. Ein schrecklicher Drache. Zuweilen erhebt er sich aus den Wassern dieses Sees, an dessen Ufern wir hier stehen. Er steigt hoch und gewaltig auf und spannt seine schwarzen ledrigen Flügel, damit sich die Sonne verdunkle. Aus seinem schnabelförmigen Rachen stößt er das Gekreisch des Vogels Pfau, nur tausendmal lauter. Seine Forderung ist klar. Er will das Fleisch unserer Herden und unserer Töchter, das Fleisch unserer Prinzensöhne schon kurz nach ihrer Geburt. Sein Hunger ist niemals gestillt. Mehr und mehr haben wir ihm vorzuwerfen. Der Khan sandte uns mutige Krieger, doch keiner konnte den Drachen besiegen. Zuweilen verführt dieser Drache seine Opfer gar, indem er sie in einen blinden Wahn reißt. Bewusstlos warf sich mancher schon in seine Klauen. Man erzählt gar von Schafen, die sich vor seiner hochaufgefahr’nen Gestalt auf den Rücken warfen und ihre Bäuche zur Zerreißung hinhielten.
Der Mogur ist in allen Elementen zu Hause. Er steigt hoch auf in die Lüfte. Er bricht durch den Sand der Steppe. Er ist klein wie ein Seidenwurm und im nächsten Augenblick groß wie der heilige Berg, der schon war bevor unsere ältesten Ahnen das Licht dieser Welt erblickten. Es ist eine Erscheinung, die in ihrer Pracht über alle Ufer tritt. Vereinend die gleißende Macht des Mittags mit dem Sturz des Lichts in dunkelste Nacht.
Regelmäßig erscheint er dort drüben am anderen Ufer des Sees neben den Höhlen. Dort zollen wir ihm auch den geforderten Tribut und ebendort erwarteten ihn die Krieger zum Kampfe.

Nachdem der Alte geendigt hatte, trat er wieder zurück in die Gruppe. Abermals blickte der Fürst den Krieger an und ergriff erneut das Wort:
– Gehe hin und töte den Mogur für uns! Nach erfolgter Tat werden wir Dich einladen und Dir die Gastfreundschaft erweisen, die einem Helden gleich Dir gebührt. Es soll dir an nichts mangeln. Es wird ein hunderttägiges Fest geben. Die schönsten Sklavinnen werden Dein sein. Aus dem Brunnen, der so fein gefertigt und beinahe so groß wie der des Khans ist wird Tag und Nacht Kara-Kumys und Wein fließen. Du wirst an meiner Seite sitzen und jeder soll dich höher achten als meine eigenen Söhne. Ich werde nicht länger dein Fürst sein, sondern ein neuer Vater. Geh hin und töte den Mogur und gegeben soll Dir sein, was du wohl schon immer begehrtest. Die Macht und die Glorie des Ruhm’s ewigen Friedens. Wenn du beendet hast den steten Wahnsinn der Opferungen. Sieh’ uns hier mit dir stehen an der Schwelle eines neuen Zeitalters, das nie enden mag.

So sprach der Fürst zum Krieger. Und die Weisen nickten und die Prinzessin lächelte, etwas geistlos möglicherweise, aber vielleicht auch nur verschämt.

Und auch der Krieger nickte.

– Lasst uns ein Rauchopfer tun!
Sie verbrannten Wacholder.

Nachdem der Fürst und sein Gefolge die Lagerstatt des Kriegers verlassen hatte, schlief dieser eine Nacht tiefen, traumlosen Schlafes. Am nächsten Morgen bestieg er sein Pferd und umrundete den See in Richtung der Höhle, die ihm der Weise gewiesen.

Fauliger muköser Gestank überall. Doch er stieg hinein tiefer ins Labyrinth der Höhle. Sah die Gebeine, die zerbroch’nen Bogen, die verrosteten Helmzieren all seiner Vorgänger. Die gebroch’nen Schwerter und Schutzwaffen. Er kroch – durch ihre Gebeine hindurch – tiefer und tiefer hinein. Und mit wildem und mutigem Schrei rief er den Drachen um ihn zu fordern. Seine Stimme echote zwischen den Knochen, die umher lagen wie die ausgespienen und erbrochenen Worte verzweifelter Dichter. Und er schlug an den Stein der Wände, er fluchte in den Staub des Bodens, er lief zurück zum Eingang der Höhle und heulte seine Forderung gen Himmel, um dann wieder in die Tiefen des Abgrunds zu tauchen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrich.

Wir wissen nicht, wie viel Zeit verstreicht.

Doch wenigst fühlte er wie er schwächer und schwächer wurde. Und sein Arm konnte das Schwert nicht mehr halten. Ab warf er den Helm und schlohweißes Haupthaar begleitete diesen Fall. Nun kroch er mehr, als er schritt. Er suchte den Eingang zu finden, nochmals. Er war weiterhin gewahr der Knochenberge ringsum.

Und wieder erreichend den Höhleneingang sank er nieder und richtete den Blick auf die Weite des Sees. Mit einem Schlag, das heißt viel zu spät, verstand er nun, dass es niemals einen Drachen gegeben hatte, sondern nur die Schickung seiner Vorväter und –mütter unter der Belagerung des Worts „Die Rache ist mein“. Er sank nieder im Schutt seiner Umgebung. Müdigkeit nahm ihn nun ein. Als ob der bodenlose Schlaf die Rettung wäre vor dem Entsetzen der Traumtage!

Bewahret einander vor Herzeleid,
denn kurz ist die Zeit die Ihr zusammen seid.

„Nach diesem Lächeln in seinem Gesicht zu urteilen, ist er glücklich gestorben.“
„Das ist kein Lächeln. Das ist ein Rictus. Eine Menge Leute, die nicht glücklich sterben, grinsen so.“

Möge dies Grinsen Anzeichen gewesen sein für die Einsicht, dass es niemals einen Drachen gegeben haben wird. Im Himmel ist alles Gewicht der Welt; auf Erden ist aller Schmerz der Welt.

Und sterbend wandelte sich das Antlitz des Kriegers zum ungekannten Gesicht. Was uns zu sehen bleibt, sind die Haufen blanker Knochen, in jenes unendlich matte Weiß getaucht, mit dem ein nie enden wollender Wind sie versehen hatte. Von der Zeltstadt her brüllt Zimbel, Flöte, Muschelhorn und das große Becken. Die Stimmen der jungen Mädchen dröhnen verächtlich in ihrem Gesang. Die Weisen kreischen ihre Gebete. Der Fürst reibt geduldig seine Hände. Die Prinzen bereiten sich vor. So wie sie es alle schon tausend Kalpas zuvor getan.

Die weiße Verzweiflung, nicht aus dieser Welt fallen zu können.

Andreas L. Hofbauer, Märchen

Tu felix Austria

peng!1

I feel like ivy on palaces walls
„Love blinds“ by Low Sweet Chariot (1)

Du glückliches Österreich … mögen doch die anderen. Wir nicht. Wir, ja wir machen das anders. Ganz anders. Und weil wir es ganz lieb und ganz ohne Krieg anders machen, finden wir unser Glück, in das wir uns gemeinsam reinlegen können wie in eine Badewanne oder in ein Himmelbett. Und da lieben wir uns dann aneinander und durchtränkt mit Liebe und voller Glücklichsein selber zu Tode. Darin besteht unser Glück.
Aber gemach. Denn wie ein großer Musiker der jüngeren österreichischen Musikgeschichte wusste, wird im Binnenland nur lauwarm gekocht. Warum also mit der Tür ins Haus fallen und meinen, man sollte das Wort Glück ebenso vermeiden, wie Samuel Beckett die Erste Person Singular und die Erste Person Plural? Wohl wissend, dass in nächster Zeit zwar keine Hochzeiten anstehen und auch die „high times“ den Zoll fortgeschrittenen Alters zu entrichten haben – könnte man sich nicht dennoch ein wenig in Schale werfen? Schließlich lässt sich doch nicht leugnen, dass unser Schiffchen in den Weiten des Ozeans unbeirrt Kurs hält, immer zwischen Entrepreneur- und Brinkmanship rudernd, zwischen Glam-Hysterie und klinischer Depression segelnd. Wunderkammer Österreich also doch, wie es einmal so schön hieß, zum Geburtstagserinnerungsfest, dem tausendsten. Alles Erinnerung, unvergessen. Morgen schon vielleicht werden die groß gewordenen Töchter und Söhne dem Mutterschoße fliehen, entkommen den zweifellos fetten Schenkeln Maria Theresias und dem strengen steinernen Faltenwurf der „Austria“, wie man sie als Bildsäule heute noch am Wiener Arsenal oder im Grazer Stadtpark oder in der Hofburg oder anderswo bewundern kann.

Alois-Drasche-Park, Wien IV, Wieden. Ehe das steif gewordene Zelluloid vom Super-8-Projektor zerbröselt wird und seltsam verzerrte Figuren auf der Leinwand erscheinen lässt, kann man mich sehen. Und meinen Kinderwagen, der auf erstaunliche Weise dem ähnelt – wie mir erst jetzt so recht auffällt – den sehr viel später die Mutter meines Sohnes kaufte. Marke Silver Cross. Made in U.K. Modell Kensington. Aber wahrscheinlich sahen damals fast alle Kinderwägen so aus. Wie sich auch alle Kinder in Filmen ähneln oder überhaupt fast jedes Bilddokument, wenn es alt genug ist, Teil der eigenen Familiengeschichte sein könnte. Erinnerungskonstruktionen à la Christian Boltanski. Wir ahnen, dass wir uns allesamt im Vergänglichen gleichen. Auf anderen Filmrollen stapfe ich munter in Richtung Kamera oder stehe da, in die Sonne blinzelnd, an der Hand von Mama oder Papa. Keine Filmrolle hält lange durch. Die Geschmeidigkeit des Materials ist abhanden gekommen. Nur beständiges Surren des Projektors und stetig gleißendes Durchlicht.

Immer mittwochs am Nachmittag pflegte ein alter Mann uns zu besuchen, der wohl sonst wenig Ansprache hatte und unserer Familie über irgendwelche Ecken herum bekannt war. Immer elegant gekleidet, mit handgefertigten, aber etwas derben Schuhen und im Anzug, war dieser auch abgeschabt und nicht als wirklich sauber zu bezeichnen. Nach dem Kaffee wurde hazardiert, wie er es scherzhaft ausdrückte. Das bedeutete, er spielte mit mir, dem damals etwa 12jährigen, unzählige Runden Schnapsen. Ein Spiel, auf das sich merkwürdigerweise meine Eltern nicht verstanden und es daher zu keinem so genannten Bauern- oder Viererschnapsen kommen konnte. Während er regelmäßig schamlos betrog, erzählte er immer dieselben Geschichten. Wie er Alexander Moissi noch auf der Bühne gesehen habe. Den Richard Tauber leibhaftig singen hörte. Wie seine jüdischen Freunde ihn freundlich als „Schmock“ bezeichneten, was er offensichtlich etwas missverständlich auf seine Eleganz und sein Kulturinteresse bezog. Er erzählte von „Stoß“ und „Zensern“, den echten und wirklich gefährlichen Hazardspielen der Wiener Unterwelt zum Zwecke der völligen Ausraubung von Großbauern, nachdem diese auf dem Viehmarkt sich eine goldene Nase verdient hatten. Ihnen wurde ihr Geld postwendend in der Leopoldstadt im Zuge unlauteren Wettbewerbs wieder abgenommen. Trotz einer gewissen Ehrfurcht im Ton versäumte er es niemals, mich eindrücklich zu ermahnen, meine Finger von derlei Tun zu lassen. Zwischen diesen Erzählungen stimmte er auch immer wieder dieses oder jenes Lied an. In seiner Jugend hatte er Gesangsstunden genommen und seine Stimme war auch im Alter eine durchaus angenehme. Besonders dann, wenn er die Karten wieder unverhohlen zu seinem Vorteil arrangiert hatte, stimmte er „Heute spielt der Uridil, das is a Hetz und kost net viel“ an. Da ich schon mit jungen Jahren eine Zuneigung zu Engeln gefasst hatte (zu gefallenen und nicht gefallenen) rätselte ich immer irgendwie ob des Namens, der mich in keiner Weise an den berühmten Stürmer von Rapid Wien gemahnte. In dieser Hinsicht denke ich, war er ohnehin von mir enttäuscht. Ich konnte seine Leidenschaft für den Fußball nicht teilen und war wahrscheinlich immer reichlich verständnislos, wenn er mir legendäre Szenen aus den Stadien beschrieb, gespickt mit seltsamen Begriffen wie „Linksverbinder“ oder „Rapid-Viertelstund’ einklatschen“. Als Herr Swoboda (bis heute entsinne ich mich nicht, jemals seinen Vornamen gehört zu haben) starb, erfuhr ich nichts davon. Meine Eltern hatte es nicht der Mühe Wert gefunden mir davon zu erzählen oder zu seiner Beerdigung zu gehen. Zugegeben fiel mir sein Fehlen auch nicht auf, denn die Tage des Kartenspielens waren damals schon vorbei. Erst neulich aber begegnete er mir wieder in einem meiner Träume.

Es ist ziemlich kalt. Ich laufe meinem Sohn hinterher. Wir haben einen Ball zum Fußballspielen mitgebracht. Es ist kein richtiger Fußball, sondern hat die Form eines „american football“. Ein Hase namens Felix ist darauf zu sehen. Gleisdreieckgelände, Seite Möckernstraße, Berlin Kreuzberg. Immer wenn ich hier bin, kommt mir das „Bekenntnis zum Gleisdreieck“ (2) in den Sinn, ausgerechnet von Joseph Roth im Sommer 1924 für die Frankfurter Zeitung verfasst. Ausgerechnet deshalb, ist es doch für Roth äußerst untypisch. Gebannt von den riesenhaften, stählernen Hochbahnviadukten, die damals zu den größten und kühnsten Europas zählten, beschwört er eine Zeit der Maschinen herauf, wo das Gesetz des Verkehrs, die Gleichgültigkeit des Maschinischen, die Macht der Beschleunigung alles so genannte Menschliche und Natürliche unterworfen hat. Ein neues Zeitalter schien heraufzudämmern und Roth bekannte sich dazu mit rückhaltlosem Ja! Nur mehr schüchtern und verschämt werden es die Gräser und Halme wagen, zwischen den metallenen Schwellen zu blühen. Der Mensch reduziert auf sein Gewese in winzigen Rangierhäuschen. Eine eiserne Redoute mit willfährigem Servicepersonal. Der Ball eiert und schlittert auf mich zu. Das Gleisdreieckgelände ist heute zum Großteil Brachland. Unbefahrene Schienen allen Orts, ungenützte Bahnsteige, dem Rost überantwortet, Baumbestand. Unweit das Deutsche Technikmuseum. Zwei Windmühlen von dessen Freigelände winken uns vorindustriell zu. Wo früher die Schönen und Reichen in einem Restaurant Ente speisten und sich dabei durch allerlei Revuegekaspere unterhalten ließen, hat sich nun eine riesenhafte Betonfreifläche breit gemacht. Ich staune, wie weit mein Sohn bereits einen Ball kicken kann. Große Tafeln erinnern an eine Zukunft, in der es hier einmal Abenteuerspielplätze, Themenparks, Wellness-Oasen geben wird. Urbane Masterpläne, die jetzt schon von Witterung und Graffiti stark angegriffen scheinen. Ich denke, es wird langsam Zeit zu gehen. In den Büroetagen des nahe liegenden Potsdamer Platzes rotieren die Festplatten in den Laptops lautlos. In den digitalen Teilnehmeranschlüssen drängen sich die Daten. Marius möchte jetzt ein Pez-Zuckerl.

Ich und Wir und die Anderen auch … verloren im verworrenen Ticktack der Zeit. Nicht alle haben die Dioptrinzahl der „glücklichen Augen“.(3) Ob dies aber von Vorteil ist, mag dahingestellt bleiben.
Lieben heißt: Mehr geben als man hat. Was bleibt, bist … du.

Andreas L. Hofbauer for peng! 1/2008

(1) http://www.myspace.com/lowsweetchariot
(2) In: Joseph Roth, Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920-39, Köln 1984
(3) Ingeborg Bachmann, Ihr glücklichen Augen, in: Sämtliche Erzählungen, München 1996

Nähmaschine

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Ein altes englisches Sprichwort lautet: „We are all Adams sons, silk oneley distinguisheth us.“ Wie bei aller Spruchweisheit mag einem Spruch und Weisheit wohl gefallen, doch auch hier harrt mehr im Verborgenen, als manchem recht und billig.

In den sinistren Träumen meiner Kindheit begegnete sie mir unzählige Male. Sie war eine stolze, große und grausame Göttin, die sich Ehrfurcht und Schrecken gebietend hochreckte vor der scheinbaren Unendlichkeit schwarzen Horizonts. Ihr augenloser metallischer Körper schien mir zuzulächeln, doch es war eher ein stählernes, dünnlippiges und vertikales Grinsen. Nicht die Perlen der Zahnreihen blitzten auf und entblößten sich, sondern nur ein einziger Stachel.

Weder war ich nackt, noch bekleidet. Ich war der Stoff, in den ich eingewoben. Ein Knoten oder eine Masche in einer sich unübersichtlich nach links und rechts, nach vorne und hinten ausbreitenden gefältelten Stoffbahn, die wer weiß wo aufruhte. Gebannt starrte ich (ja – ich hatte Augen um zu sehen, zweifellos, ich weiß nicht woher oder warum) auf das Schauspiel, welches nun anhob. Das Grinsen nickte mir zu. Ein Sog begann den Stoff und mich mit ihm vorwärts zu ziehen mit rasender Geschwindigkeit, geradewegs hinein in dieses Nicken. Ein Grinsen, das nickt. Schneller und schneller, auf und ab. Alles lief auf diesen einen Punkt zu, der ich sein sollte. Losmachen wollte ich mich, doch entkam ich nicht dem Verbund, in den ich eingeflochten. Der versteckte Transporteur kannte nur eine Richtung. Entsetzen und Erregung überschwemmten mich, als ich hingerissen meinem Ziel folgte. Immer, wenn ich es erreichte, erwachte ich.

Jedes Kleid (hyphasma / peplos) oder allgemeiner Gewebe (hyphos) wird aus einem gespannten, oder versteiften, vertikalen Faden (stemon / mitos) und einem horizontalen (kroke / rhodane) verfertigt. Die Worte für den vertikalen Faden sind Maskulina, die für den horizontalen Feminina. Das Verweben der beiden (symploke) wurde daher nicht erst bei Seneca mit dem Verkehr der Geschlechter identifiziert. Doch mitnichten handelt es sich um eine Form der Verbindlichkeitsherstellung (bond / Band). Vielmehr ist diese Verbindlichkeit bestenfalls eine diverse oder gar unmögliche. Leitet sich denn nicht selbst der kairos, der glückliche Augenblick, noch her vom Einschlag am Webstuhl? Vom dreieckigen Spalt beim Anhub der Kettfäden, ehe er vom Schussfaden durchschossen? Von der nur kurzfristig auftauchenden Öffnung, die vom Weberschiffchen gequert wird? Eine Lücke – aber eine, die der Öffnung im Panzer gleicht, die durch den Speer (tödlich) geschlossen wird.

Naht und Schnitt informieren das Gewebe. Der Stoff bleibt Traum, die Nadel seine Wahrheit.

In David Lynchs Inland Empire flüstert das Lost Girl Nikki Grace aka Susan Blue zu:

„Do you want to see?

You light a cigarette
You push and turn it right into the silk
You fold the silk over
And then you look through the hole.“

Und ein kleiner Junge trat ins Licht.

Andreas L. Hofbauer (2009); für Silvia Breitwiesers WEBWerk